Zambija


Die sechzehnjährige Kathrin Mitchell hat von ihrer Großmutter ein Medaillon geerbt. Von dessen Macht erfährt Kathrin erst, als sie den Zauberer Argon trifft, der sie und ihren Freund aus der Menschenwelt nach Zambija entführt. Um Zambija vor dem drohenden Untergang zu bewahren, muss sie sich dem einstigen Herrscher der Unterwelt stellen. Doch um ihn zu besiegen, müssen alle sieben Medaillons und ihre Träger vereint werden.


Die Widmung dieses Buches ist aufgeteilt:

 

In ewiger Liebe meiner Frau Ursula,

die das Leben mit mir teilt

und mein Herz besitzt.

 

Für Doris und Steffen,

zwei lebenslustige Menschen,

die mir sehr am Herzen liegen.

 

Für Hanni,

die Lebensgefährtin meines Vaters,

die bis zur letzten Sekunde an seiner Seite stand.

 

Zum Gedenken an meine

Großmutter Katharina,

von ganzem Herzen.

Danke für eine unbeschwerte Kindheit.

 

Zum Gedenken an meinen

Vater Jakob,

der alle meine Bücher las.

Vielen Dank für alles.

 

 

 

 

Inhalt

Prolog  9  (Leseprobe)

 

 Völlig out  18  (Leseprobe)

 Mit Musik geht alles besser  28  (Leseprobe)

3  Der mysteriöse Fremde  33  (Leseprobe)

 Teestunde mit Argon  39  (Leseprobe)

5  Traue niemals einem Fremden  44  (Leseprobe)

6  Auf die Folter spannen  56  (Leseprobe)

7  Glotz nicht so dämlich!  61  (Leseprobe)

8  Argon will alles erklären, aber dann ...  69  (Leseprobe)

9  Zauberer gibt es nicht, oder?  79

10  Die letzte Hüterin  88

11  Ein Traum geht in Erfüllung  93

12  Peppi, der Pfeifenmacher  108

13  Das Geheimnis der sieben Medaillons  114

14  Wenn Kathrin schon sterben soll, dann bitte nicht so!  123

15  Die besondere Gabe  134

16  Hals über Kopf  140

17  Neue Freunde! Neue Liebe?  149

18  König der Zwerge  159

19  Wen liebt sie denn nun mehr?  169

20  Die Blutmoore  177

21  Der König der Elben  184

22  Schön, wenn man sich einig ist  192

23  Die Debatte der Zauberer  199

24  Der sagenumwobene Königsberg  208

25  Leovy hütet ein Geheimnis  220

26  Reise in die Vergangenheit  230

27  Flucht oder Kampf?  243

28  Wieder daheim  261

29  Der Held ist müde geworden  275

30  Ein fataler Fehler  286

31  Der Tod tut ihm nicht weh  294

32  Am Boden zerstört  305

33  Auf Augenhöhe mit Gaia  314

34  Das Göttertribunal  322

35  Selbst der Tod kann uns nicht trennen  335

36  War es Verrat?  347

37  Anführer der Riesen  360

38  Von Zweifeln geplagt  370

39  Jetzt kommt's drauf an  383

40  Der Verräter wird enttarnt  398

41  Ist nicht so schlimm!  407

42  Kathrin hat ihren eigenen Kopf  415

43  Abschied nehmen oder so  425

44  Wieder zu Hause, trotzdem nicht glücklich  440

 

Personen-, Orts-, und Sachverzeichnis  451

Danksagung  457

 

 

 

 

Es gibt viele Geschichten,

die uns unglaublich erscheinen,

aber steckt nicht in jeder dieser Geschichten

ein Funke an Wahrheit?

Dan Gronie

 

 

 

 

Prolog

Dichter Nebel zog am frühen Morgen über das Gras bewachsene, hügelige Land, auf dem ein hoher, steiler Berg wie der Thron eines Königs emporragte. Entsetzliche Schreie durchbohrten die Stille. Auf der Ostseite des Berges tobte eine wilde Schlacht zwischen Menschen und Zwergen. Die Zwerge verteidigten einen alten Stollen, der tief in den Berg hineinführte, aus dem sie unermessliche Bodenschätze ans Tageslicht gefördert hatten. Eines Tages wurde der König des Nachbarlandes neidisch auf den Reichtum der Zwerge und verlangte einen Teil des Schatzes, weil sich die eine Hälfte des Berges auf seinem Land befand. Die Zwerge aber wollten den Reichtum nicht teilen, und deswegen war diese blutige Schlacht entbrannt.

Garnisch Isonei, der Anführer der Zwerge, spaltete einem Menschen mit seiner doppelschneidigen Axt den Schädel. Garnisch atmete durch. Den Stiel der Axt hielt er mit seinen schwieligen Händen fest umklammert. Er war zwar erschöpft vom Kampf, dennoch spornte ihn der Hass auf die Menschen an, und er stürzte sich wieder ins Kampfgetümmel. Sein überaus finsterer Blick ließ manch einen Feind vor ihm zurückweichen, doch Garnisch war schnell, fliehen konnte niemand vor ihm. Seine Feinde mussten sich seinen Kampfkünsten stellen.

Früher einmal hatten alle Andersartigen gemeinsam mit den Menschen friedlich zusammengelebt. Doch diese Zeit war schon lange vorbei. Es war ein finsteres Zeitalter angebrochen, in dem die Welt völlig aus den Fugen geraten war. Die Könige der Menschen wurden größenwahnsinnig, sie strebten nach Macht und Reichtum. Ohne Rücksicht auf die zivilen Verluste, zettelten sie blutige Kriege an und verbündeten sich mit den Orks, den Ogern und den Trollen. Niemand war vor diesen Königen mit ihren Armeen mehr sicher. Sie führten Kriege gegen die Zwerge und Elben, aber auch gegen die Riesen. Sie jagten die Werwölfe und töteten sie, sie verbrannten Hexen und Zauberer – nur so zum Spaß.

Den Menschen kam zu Gute, dass sich Zwerge und Elben nicht sonderlich gut verstanden und sich in erbarmungslosen Schlachten gegenseitig dezimierten.

Garnisch stand einem kampferfahrenen Soldaten Auge in Auge gegenüber. Dann stieß Garnisch einen wütenden Schrei aus und schickte den Soldaten ins Jenseits, bevor er sich mit erhobener Axt und einem lauten Schrei gegen einen Ork warf, der an der Seite der Menschen kämpfte. Menschen hasste er wie die Pest, aber der Hass auf die Orks war noch größer. Bevor Garnisch zum Schlag ausholen konnte, griff der Ork ihn an und schleuderte ihn von sich weg wie eine Spielzeugfigur.

Garnisch traf hart auf dem Boden auf, und sein Kettenhemd drückte sich dabei in den Rücken. Er unterdrückte einen Schmerzensschrei und stellte sich wieder dem massigen Ork entgegen, der ihn mit seiner mächtigen Eisenkeule erwartete. Garnisch musterte die Plattenrüstung des Orks und kam zu dem Schluss, dass seine Axt sie nicht durchbrechen konnte. Aber die Beine und die Achseln des Orks waren ungeschützt.

Für einen kurzen Augenblick grinste Garnisch breit und griff mit eisiger Miene den Ork an. Garnisch duckte sich vor der mächtigen Eisenkeule, die wie ein Geschoss auf seinen Kopf zuraste, dann schlug er dem Ork seine Axt in die rechte Wade. Der Ork schrie gellend auf und sackte mit den Knien zu Boden. Garnisch fackelte nicht lange, wollte die Kehle des Orks zerschlagen, aber der Ork erhob seine Eisenkeule und schlug zu. Garnisch wich dem tödlichen Schlag aus, doch zuvor grub sich die Schneide seiner Axt in die rechte Achsel des Orks. Dunkelgrünes Blut rann aus der tiefen Wunde zu Boden. Der Ork fiel auf den Rücken. Garnisch war rasch über ihm und sah, dass der Ork sehr viel Blut verlor. Der Ork schlug mit seiner Eisenkeule nach Garnisch, der einfach nur zurückwich.

»Du hast dir die falschen Verbündeten ausgesucht, verfluchter Ork«, sprach der Zwerg mit finsterer Miene. »Den Menschen kann man nicht trauen.«

Der Ork schlug wieder nach dem Zwerg, doch der Versuch den Zwerg zu erwischen, war vergebens.

»Du wirst mit all den Menschen hier sterben«, sagte Garnisch aufgebracht und fuhr dann fort: »Genauso wie alle deine Artgenossen, Ork.«

Mit dem letzten Wort traf die Axt von Garnisch das linke Bein des Orks, und er schlug ihn damit zum Krüppel.

»Ein schneller Tod wäre viel zu milde für dich, Ork.« Die Stimme des Zwerges schwoll gefährlich an: »Du wirst langsam sterben ... verbluten. Und du wirst bei lebendigem Leib miterleben, wie die Geier und Krähen dein Fleisch fressen werden.«

Garnisch Isonei kehrte dem sterbenden Ork mit einem verächtlichen Blick den Rücken zu und stand schon seinem nächsten Feind gegenüber. Es war ein stämmiger Mann in einer Rüstung, der ein Breitschwert führte und gerade einem Zwerg eine Stichverletzung zugefügt hatte. Als der Mensch mit seinem Schwert zum Todesstoß ausholen wollte, schritt Garnisch dazwischen und attackierte ihn mit seiner doppelschneidigen Axt. Garnisch hieb zu, doch der Mensch wehrte den Axthieb gekonnt ab. Sofort drehte Garnisch sich herum und schlug mit der anderen Schneidseite seiner Axt zu, aber auch diesen Schlag wehrte der Mensch ab. Der Axthieb von Garnisch war aber so wuchtig, dass der Mensch dabei in die Knie ging. Hass funkelte in den dunklen Augen des Zwerges, als er die Axt auf den Kopf seines Gegners hinabsausen ließ. Doch der Mensch erhob das Breitschwert, und die beiden Waffen trafen klirrend aufeinander.

»Ich werde dir den Kopf spalten«, versprach ihm Garnisch.

»Du wirst Dreck fressen, wenn du sterbend auf dem Boden liegst, Zwerg«, entgegnete der Mensch und stand kampfbereit vor Garnisch.

»Na, dann komm her und versuch dein Glück, stinkender Mensch«, schimpfte Garnisch und hieb schwungvoll mit der Axt zu, doch der Mensch wehrte den Angriff abermals geschickt ab.

»Du, widerlicher Zwerg, wirst mich um dein Leben anbetteln, wenn du im Dreck vor mir liegst«, spottete der Mensch.

Garnisch wurde wütend und attackierte seinen Gegner und trieb ihn über das Schlachtfeld vor sich her, doch Garnisch konnte dessen Abwehr nicht durchbrechen. Dann stand das Schicksal auf der Seite von Garnisch, als der Mensch rücklings über einen Toten zu Boden stolperte.

Als Garnisch seinem Gegner den Todeshieb versetzten wollte, wurde er von einem anderen Menschen angegriffen und musste sich zur Wehr setzen. Garnisch duckte sich unter einem waagerecht geführten Hieb seines Gegners hindurch, wirbelte um die eigene Achse und schlug mit aller Wucht zu. Die Axt des Zwerges fand sein Ziel und schlug in den Magen seines Feindes ein, der sterbend zu Boden fiel.

Garnisch wandte sich sofort seinem ursprünglichen Gegner zu, der wieder auf den Beinen war und sich auf den Angriff des Zwerges vorbereitete. Zwerg und Mensch starrten sich an, die Zeit schien für Garnisch einen Augenblick stillzustehen. Garnisch konzentrierte sich auf den Angriff und horchte, und es schien ihm, als würde das Kampfgeschrei und das Klirren der Äxte und Schwerter mit einem Mal leiser werden.

Garnisch erkannte deutlich, dass sein Gegenüber verunsichert war. Er sah, wie das rechte Auge seines Gegners zuckte. Der Zwerg trat einen Schritt vor, und zugleich warf sich der Mensch mit einem Schrei gegen ihn. Der Zwerg duckte sich unter dem Schwerthieb hinweg und zerschmetterte mit seiner Axt den rechten Fuß seines Gegners; zugleich wandte der Zwerg sich rasch an seinem Feind vorbei, und seine Axt grub sich knirschend in dessen Rückenpanzer. Als der Zwerg die Axt aus dem Panzer zog, floss rotes Blut aus dem länglichen Loch und tropfte zu Boden.

Der Mensch war besiegt und versuchte humpelnd zu fliehen. Doch der Zwerg trat schnell an seine Seite und sagte spöttisch: »Mein Name ist Garnisch. Überbring deinem König einen schönen Gruß von mir, und sage ihm, dass ich auf seine Männer warten und jeden Einzelnen töten oder verstümmeln werde.«

Garnisch ließ den schwer verletzten Menschen ziehen und suchte sich einen neunen Gegner.

Die Schlacht tobte weiter. Garnisch brachte noch viele Feinde zur Strecke. Die Zwerge besiegten zwar die Menschen und die Orks in dieser Schlacht, aber die Verluste waren groß. Garnisch schlug dem König persönlich den Kopf von den Schultern und spießte ihn auf einer Lanze auf, die er in den Boden steckte, sodass jeder den Ausdruck des Schreckens im Gesicht des toten Königs sehen konnte.

 

 

Es war ein grausames Zeitalter, und nach dieser blutigen Schlacht folgten noch sehr viele Schlachten. Menschen gegen Zwerge. Menschen gegen Elben. Zwerge gegen Elben. So konnte es nicht weitergehen, und aus diesem Grund trafen sich heimlich acht hochrangige Zauberer, um einen Plan zu schmieden, damit das entsetzliche Blutvergießen ein Ende finden würde. Die Zauberin Urna war die Anführerin und besaß zwei außergewöhnliche Gaben: Sie konnte einen Schutzzauber aussprechen und sie konnte das Feuer beschwören.

Es war eine glasklare Herbstnacht, als sich die acht Zauberer, bei der alten Kultstätte trafen, die mitten im Wald auf einer kleinen Lichtung lag. Acht mächtige Obelisken standen in einem Kreis beisammen. Urna hatte eine Eingebung gehabt, die sie den anderen Zauberern persönlich mitteilen wollte.

Da die Zauberin von den Königen der Menschen als Verräterin entlarvt und auf sie und ihre Anhänger ein hohes Kopfgeld ausgesetzt worden war, war Urna immer besonders aufmerksam bei solchen Treffen.

Die Zauberin hob langsam die Nase nach Westen und schnüffelte wie eine Raubkatze. »Hier stimmt etwas nicht«, sagte Urna besorgt, als alle Zauberer eingetroffen waren. »Orks«, sagte sie kurz, und die Zauberer bildeten einen Kreis, damit ihnen niemand in den Rücken fallen konnte.

Eine Horde Orks hatte scheinbar Wind davon bekommen, wo sich die Zauberin und ihre Anhänger im Wald treffen wollten, und sie lagen bereits hier auf der Lauer.

Der Atem des massigen Orks, der aus dem Schatten eines mächtigen Laubbaumes auf die Lichtung trat, roch wie eine vollgelaufene Latrine. Er sah Urna in die Augen und zog die Riemen seines Brustpanzers enger um seinen muskulösen Körper. Dann nahm er mit der rechten Hand eine Streitaxt und mit der linken Hand einen Streithammer vom Waffengürtel ab.

»Ihr könnt leben oder sterben«, knurrte der Ork die Zauberer an. »Ist allein eure Entscheidung«, zuckte er gleichgültig mit den breiten, behaarten Schultern.

Eine Horde von etwa vierzig Orks trat hinter ihrem Anführer aus dem Wald heraus. Doch die Orks waren nicht die einzigen Feinde, denn aus östlicher Richtung kamen vierzig Soldaten der Menschen aus dem Laubwald auf die Lichtung, die sich auch das Kopfgeld verdienen wollten, das auf die Zauberer ausgesetzt war.

Die Hoffnung von Urna, dass sich die beiden Parteien in einem Streit gegenseitig vernichten würden, wurde mit dem Satz zerschlagen, den der Anführer der Orks zu den Soldaten der Menschen hinüberrief: »Das Kopfgeld reicht für uns alle.« Der Anführer der Soldaten nickte dem Ork einwilligend zu. Einige Soldaten nahmen ihre Schwerter zur Hand, andere wiederum spannten ihre Bögen und zielten damit auf die Zauberer.

Ein Kampf schien unvermeidbar, denn Urna und die anderen Zauberer wollten sich nicht den Königen unterwerfen. Die Zauberer hatten sich vorgenommen alle Andersartigen, die sich nicht mit den Menschen verbündet hatten, zu retten, und dafür wollte Urna ein Bündnis mit den Göttern eingehen.

Magie gegen Stahl. Eine Übermacht gegen acht Zauberer. Wer würde diese Schlacht gewinnen?

Urna wusste ganz genau, dass ihre Vision von einer friedlichen Welt, in der alle Andersartigen leben konnten, mit einem Schlag vernichtet wäre, wenn sie sich heute ergeben würden. Sie war sich sicher, dass alle acht Zauberer ihr Leben verlieren würden, wenn sie an die Könige ausgeliefert würden.

Also blieb nur eine Option übrig: Der Kampf!

»Verdammte Orks, verfluchte Menschen«, sagte Ombata hasserfüllt, der an Urnas rechter Seite stand und seinen langen Zauberstab, der einen knubbeligen Knauf besaß und ihm auch als Wanderstock diente, gegen die Orks erhoben hatte.

Weitere Orks traten aus dem Wald heraus.

»Es sind zu viele«, flüsterte Ronwald, an Ombata vorbei, Urna zu.

»Was willst du denn machen, Ronwald?«, wandte sich Ombata ihm zu. »Dich etwa ergeben?«, fragte er.

»Natürlich nicht«, sagte Ronwald erzürnt.

»Wir sollten alle Orks und Menschen vernichten«, fluchte Ombata.

»Nicht alle Menschen sind schlecht, Ombata«, mahnte Urna ihn zur Vernunft, »und auch nicht alle Orks. Wir müssen nur ihre törichten Anführer töten und sie durch kluge und friedfertige ersetzen«, ergänzte sie.

Ein kurzes Schweigen lag in der Luft.

»Ja«, knurrte Ombata nur.

Urna wandte sich wieder den Orks zu und wartete auf den Angriff.

»Eins sollst du noch wissen, Urna, falls ich heute hier sterben sollte«, sagte Ombata. »Es ist mir eine Ehre an deiner Seite zu stehen und für unser gemeinsames Ziel mein Leben zu geben.«

»Danke, für deine Loyalität, Ombata«, erwiderte Urna und ergänzte: »Aber niemand von uns wird heute hier sterben.«

Sie sagte das mit so einer Überzeugungskraft, dass Ombata kurz zusammenzuckte und sich schweigend den Orks zuwandte.

Dies waren kriegerische Zeiten, und deshalb hatte Urna auch kein Mitleid mit ihren Feinden. Überall in den Königreichen flammten Auseinandersetzungen zwischen den Menschen und den Andersartigen auf. Es gab Gerüchte, dass auch Vampire und Einhörner Opfer der menschlichen Gewalt wurden.

Urna konnte es genau spüren, der Angriff stand unmittelbar bevor. Sie schloss die Augen. Der Anführer der Orks brüllte und stürmte über die Lichtung hinweg, auf die Zauberer zu. Seine Horde von nun etwa sechzig Orks folgte ihm dichtauf.

»Mögen die Götter uns beistehen«, flüsterte Ombata, senkte kurz den Blick und sprach ein leises Gebet.

Die Zauberer beschworen Blitze mit ihren langen Zauberstäben herauf, die über die Lichtung wie Geschosse hinwegflogen und sich in das Fleisch und die Eingeweide der Orks bohrten. Doch der Ansturm war zu groß, als dass die Blitze sie alle aufhalten konnten.

Von der anderen Seite her, stürmten etwa zwanzig Soldaten auf die Zauberer zu. Etwa weitere zwanzig Soldaten spannten ihre Bögen, und im nächsten Moment flogen Pfeile über die Köpfe der heranstürmenden Soldaten hinweg, auf die Zauberer zu.

Urnas Körper leuchtete auf, und bevor die Pfeile in den Kreis der Zauberer einschlagen konnten, verbrannten sie in der Luft und verkohltes Holz rieselte wie Schneeflocken vom Himmel auf die Zauberer herab.

Die Orks stürmten heran und drohten die Zauberer einfach zu überrennen.

Urnas Augen glühten wie heiße Kohlen, und plötzlich stand ihr Körper in Flammen. Die Zauberer wichen erschrocken zurück, denn sie wussten nichts von Urnas besonderen Gaben.

Von Urnas Körper löste sich eine Feuerwalze und bewegte sich auf die heranstürmenden Orks zu, die keine Zeit mehr hatten zu fliehen. Sie verbrannten alle, bevor sie die Reihe der Zauberer erreichen konnten. Das gleiche Schicksal erwartete die heranstürmenden Soldaten. Die Bogenschützen flohen.

Urnas Körper kehrte wieder in den Normalzustand zurück.

»Du ... du besitzt eine Macht, mit der wir die Menschen vernichten können.« Ombata fand als erste die Worte wieder.

Urna schüttelte nur den Kopf. »Hört mir jetzt alle genau zu«, sagte Urna eindringlich. »Ich weiß, dass ich zwei mächtige Gaben besitze, aber ich werde sie nicht zur Vernichtung einer ganzen Rasse einsetzen«, sagte sie mit Nachdruck. »Meine Vision ist der Frieden!«

»Ja, aber ...«, fing Ronwald an und schwieg sofort, als Urna ihn mahnend ansah.

»Ich werde meine Gaben zur Verteidigung unseres Lebens nutzen, nicht für eine Massenvernichtung«, machte Urna nochmals deutlich.

 

 

Einen Tag später versuchten die Zauberer Kontakt zu den Göttern aufzunehmen, aber den Göttern schien es wohl egal zu sein, was aus den Andersartigen wurde, und Urna stand kurz vor einem Scheideweg und spielte mit dem Gedanken, Ombatas Vorschlag zu überdenken. Sie konnte die Kriege mit einem Mal beenden, in dem sie sämtliche Könige und deren Armeen tötete. Doch dann musste sie auch deren Familien, Frauen und Kinder töten, wenn sie sicher sein wollte, dass niemand aus Rache wieder Armeen gegen die Andersartigen aufstellen würde.

Urna und die Zauberer starteten einen letzten Versuch und fanden unerwartet Gehör bei Zeus und seinen Geschwistern. Die Zauberer erklärten ihre Situation und taten sich mit diesen Göttern zusammen und schufen eine neue Welt:

 

 

 

Die Götter taten dies nicht aus purer Gutmütigkeit. Sie befürchteten ein Ungleichgewicht in der Welt und sahen ihre Zukunft gefährdet, denn die Menschen hatten viel Schlimmeres getan als sich mit Orks, Ogern und Trollen zu verbünden. Sie waren ein Bündnis mit den Dämonen eingegangen und erlaubten ihnen den Zutritt zur Menschenwelt. Nun mussten die Götter reagieren und konnten sich nicht mehr heraushalten. Die Göttin Gaia erschuf in dieser düsteren Zeit sieben goldene Halsketten mit silberweißen, göttlichen Medaillons, um die Dämonen aus der Menschenwelt wieder zu vertreiben.

Urna und die Zauberer bekamen, was sie angestrebt hatten, und ihre Vision von einer friedlichen Welt wurde fürs Erste erfüllt. In Zambija durften alle Andersartigen leben, die in der Menschenwelt nicht mehr zurechtkamen.

Zwerge und Elben schlossen nach Jahrzehnten kriegerischer Auseinandersetzung endlich Frieden. Auch Zauberer, Riesen, Werwölfe und Einhörner bekamen einen Platz in dieser neuen Welt. Auch die Vampire erhielten ein Gebiet für sich.

Aber auch all die Ungeheuer wie Orks, Oger und Trolle hatten die Menschenwelt verlassen müssen und lebten von nun an in Zambija, in der Verbotenen-Zone, auch das Dunkel-Land genannt. Dieses Land wurde vom restlichen Zambija mit einer magischen Barriere getrennt.

Die Welt der Menschen und Zambija existieren seitdem parallel zueinander, und somit sind beide Welten eng miteinander verbunden.

Die Könige der Menschen bekriegten sich wieder untereinander und der Frieden in der Menschenwelt kehrte erst ein, als die Könige begriffen hatten, dass Krieg nur Tod, Elend und Zerstörung brachte.

Lange, lange Zeit herrschte Frieden in Zambija, aber Frieden ist nichts für die Ewigkeit.

 

 

 

 

Völlig out

Drei Jahre waren nun schon vergangen, seitdem Kathrin Mitchell mit ihrer Mutter und ihrem Bruder von Würzburg an den Ammersee umgezogen waren. Kathrins Vater war ein Jahr zuvor durch einen Autounfall ums Leben gekommen, und in dem gleichen Jahr hatte Kathrin noch einen Schicksalsschlag zu verkraften gehabt, als ihre Großmutter unerwartet verstorben war.

An einem sonnigen Nachmittag saß Kathrin auf einer Bank im Uttinger Summerpark und ließ ihren Blick gedankenvoll über den herrlichen Ammersee schweifen. Nach der Schule kam sie gerne hierher, um auszuspannen. Sie wandte den Blick nach links, als das Horn des Schaufelraddampfers ertönte, der gerade vom großen Steg ablegte. Kurz danach kehrte wieder Ruhe ein, und sie beobachtete, wie ein Schwarm Enten über den See, in Richtung Südufer flog, wo sich ein Vogel- und Naturschutzgebiet befand.

Kathrin dachte an die verflixte Schule. Auf dem Gymnasium lief nicht alles so gut, wie sie es sich erhofft hatte. Mit dem Lernen klappte es schon, aber mit ihren Mitschülern kam sie nicht zurecht. Die einzigen guten Freunde, die sie in der Klasse hatte, waren Patrick Noske und Ben Krämer, Patricks bester Freund. Es gab zwar auch den ein oder anderen Mitschüler mit dem Kathrin mal ein Wort wechselte, aber das war selten. Vielleicht lag es daran, dass sie manchmal launisch war. Das war dann der Fall, wenn sie an ihren Vater und an ihre Großmutter dachte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie kein Handy besaß und oft Klamotten anzog, die total out waren. Rolf Eschbach und Juliane Bauer waren die Schlimmsten in ihrer Klasse, die Kathrin oft damit aufzogen.

»Ah, hier steckst du wieder«, sprach Patrick sie von der Seite an.

Kathrin zuckte vor Schreck zusammen.

»Hast du dich erschrocken?«, fragte Patrick und grinste breit, sodass seine weißen Zähne zum Vorschein kamen.

»Ja«, nickte Kathrin und zeigte ihr erstes Lächeln an diesem Tag.

»Noch ein Platz frei bei dir?«

»Klar doch.«

»War mal wieder ein doofer Schultag«, bemerkte Patrick und verzog leicht die Mundwinkel.

»Ja«, brummte Kathrin und das Lächeln in ihrem Gesicht verschwand.

»Was war denn los zwischen dir und Rolf?«, fragte Patrick neugierig.

»Er ist ein Arsch«, schimpfte Kathrin.

»Ja, das ist er«, bestätigte Patrick und musste leicht lächeln.

Okay, dachte Kathrin und versuchte, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen. Patrick war umwerfend. Kathrin könnte sich vorstellen, mit ihm eine intimere Beziehung einzugehen, aber das wollte sie jetzt noch nicht. Sie wollte im Augenblick einen Freund, mit dem sie etwas unternehmen konnte, der sie respektierte und ihr zuhörte.

Patrick war sechzehn Jahre, so alt wie sie, und er war ein kluger, charmanter und gutaussehender Junge, der bei den Mädchen in ihrer Klasse total angesagt war, aber Patrick machte sich nichts aus ihnen, sondern hing gerne mit ihr ab, und das machte Kathrin total glücklich.

»Tja, also das mit Rolf heute ...«, fing Kathrin an, und Patrick fiel ihr ins Wort: »Wenn du's mir nicht erzählen möchtest, ist das schon okay, Kathrin.«

Kathrin schwieg und beobachtete die vielen kleinen Segelbote auf dem See. Ein Motorboot fuhr nahe am Ufer vorbei, kurz darauf rollten kleine Wellen ans Ufer. Wo hat der denn seinen Bootsführerschein gemacht?, dachte Kathrin.

»Wirklich, es ist okay«, wiederholte Patrick und fragte: »Was hast du heute noch ...«

»Ich will es dir aber erzählen, Patrick«, unterbrach Kathrin ihn mit fester Stimme und sagte dann: »Ich finde nur manchmal nicht sofort die richtigen Worte.«

»Geht mir manchmal auch so«, sagte er, obwohl das eine Lüge war, wie Kathrin wusste. Sie hatte nämlich noch nie erlebt, dass Patrick die Worte ausgegangen wären oder er keine vernünftige Antwort auf eine Frage gehabt hätte.

Kathrin senkte leicht den Blick. »Rolf hat zu mir gesagt, dass meine Jeans so aussähe, als stamme sie aus den achtziger Jahren und dass mein T-Shirt mir viel zu groß wäre ...«

»Aha«, sagte Patrick nur.

»Na ja«, sagte Kathrin und hob den Blick.

»Das war ja nicht so schlimm. Das war aber noch nicht alles, oder?«, hakte Patrick nach.

Kathrin sah ihm fest in die Augen.

»Er hat über meine Mutter gelästert und gesagt, dass sie mir und meinem Bruder noch nicht einmal anständige Kleidung kaufen könnte und dass sie die Kleidung für uns im Secondhandshop kaufen würde«, brummte Kathrin zornig.

»Fieser Typ«, sagte Patrick.

»Ja.«

»Und er hat außerdem noch gesagt, dass meine Mutter eine Versagerin wäre und deswegen jedes Wochenende als Putzfrau arbeiten müsste«, ergänzte sie.

»Wow, das ist aber krass«, sagte Patrick. »Und was hast du darauf geantwortet?«, wollte er wissen.

Kathrin zog die rechte Augenbraue hoch.

»Oha«, sagte Patrick und sah ihr ernst in die Augen. Vielleicht ahnte er ja schon, was Kathrin nun sagen würde.

»Nun ja, ich habe ihm eine blutige Nase verpasst«, antwortete Kathrin.

»Gut so, das hat er verdient«, nickte Patrick, »aber du solltest vielleicht demnächst nicht so impulsiv reagieren.«

»Und was stellst du dir so vor, was ich tun sollte?«, fragte sie aufgewühlt.

Sie sahen sich schweigend an. Kathrin war sich sicher, richtig gehandelt zu haben. Rolf hatte sich das selbst eingebrockt. Da sie mit Worten manchmal nicht so geschickt umgehen konnte wie Patrick, waren halt die Fäuste ihre Argumente. Ihre Mutter hatte es nämlich nicht leicht gehabt, nach dem Tod ihres Vaters. Sie arbeitete als Verkäuferin im Supermarkt. Finanziell kamen sie so gerade eben über die Runden, aber auch nur, weil ihre Mutter noch einen zweiten Job ausübte. Jeden halben Samstag arbeitete sie als Reinigungskraft bei einer großen Firma. Niemand hatte das Recht, ihre Mutter dermaßen zu beschimpfen.

»Entschuldigung, Patrick«, sagte Kathrin aufrichtig und unterbrach damit das Schweigen. »Ich wollte dich nicht anschnauzen.«

»Ist schon okay, Kathrin ...«, fing Patrick an, und Kathrin sagte: »Ist es nicht. Es tut mir leid, Patrick. Du bist ein sehr guter Freund, den besten den ich habe, und ich ...«

»Was hat denn Rolf danach getan?«, lenkte Patrick das Gespräch in eine andere Richtung.

»Dieser kleine ... er hat ...«, Kathrin kniff wütend die Augen zusammen, doch dann lächelte sie vergnügt, »... geflennt und ist weggerannt«, doch kurz darauf verfinsterte sich ihre Miene wieder. »Dann musste ich zum Rektor und hab mir eine lange Predigt von ihm anhören müssen.«

»Was?«, sagte Patrick erzürnt und ein Ruck ging durch seinen Körper. »Rolf hat dich beim Rektor verpfiffen? Dieser fiese Schei... Dafür wischen wir ihm noch eins aus.«

»Okay«, lachte Kathrin fröhlich. »Hm, tja Patrick, jetzt hast du dich aber nicht im Griff.«

Sie sahen sich in die Augen und lachten laut los. Kathrins Herz schlug schnell. In diesem Moment hätte sie Patrick gerne geküsst.

»Bald sind ja wieder die Ritterspiele auf Schloss Kaltenberg«, lenkte Patrick das Gespräch in eine völlig andere Richtung. »Gehen wir dieses Jahr wieder zusammen dorthin?«, fragte er vorsichtig.

»Klar. Wird bestimmt wieder super«, freute sich Kathrin.

Patrick lächelte sie an. »Ja, das denke ich auch.«

»Siehst du den Typen da drüben?« Kathrin zeigte auf den See. »Der fällt gleich von seinem Paddelbrett ins Wasser.« Kaum hatte Kathrin den Satz beendet, plumpste der junge Mann kopfüber in den See.

Beide lachten wieder drauflos. Kathrin warf wieder einen Blick zum Dampfersteg und fragte Patrick: »Sollen wir am Wochenende ins Strandbad gehen?« Das Strandbad lag kaum zwei Minuten Fußweg vom Steg entfernt.

»Gerne«, antwortete Patrick.

Patricks Smartphone summte. Er nahm es aus der Hosentasche und warf einen Blick auf das Display.

»Oh, es ist meine Mutter. Da muss ich mal eben rangehen«, entschuldigte er sich bei Kathrin.

Kathrin nickte ihm zu.

»Hallo, Mom«, meldete sich Patrick freundlich. »Ich bin mit Kathrin am See«, sagte er. »Ah, okay. Kann ich machen ... also, Butter und Milch ... ja, und Mehl«, wiederholte er, legte auf und wandte sich Kathrin zu: »Meine Mutter will heute noch einen Kuchen backen, und ich soll dafür noch etwas besorgen.«

»Musst du sofort gehen?«, fragte Kathrin.

Patrick schüttelte den Kopf. »Ein bisschen Zeit habe ich noch. Tja, manchmal kann das Ding hier auch ein Fluch sein«, sagte er und hob sein Smartphone empor, bevor er es in der Hosentasche verschwinden ließ.

»Damit habe ich kein Problem«, lächelte Kathrin vergnügt. »Ich habe nämlich keins.«

»Ist manchmal gar nicht so verkehrt«, kam es von Patrick.

»Juliane hat mich auf dem Schulhof mal gefragt, ob ich mich noch mit Rauchzeichen verständigen würde.« Kathrin kicherte hinter vorgehaltener Hand. An ihrem Armgelenk schimmerte ein bronzenes Armband, das sie auch oft auf Mittelalterfesten trug. »Bevor ich antworten konnte, summte ihr Handy, und sie ging ran, dann kamen ein paar SMS, und sie musste sie sofort beantworten. Dann kamen noch Meldungen von Facebook, WhatsApp, Instagram und so 'n Zeug, und sie kam in der Pause gar nicht mehr dazu mit ihren Mitschülern zu reden.«

»Von dem ganzen Kram halt ich auch nicht so viel«, bestätigte Patrick ihr.

»Als Juliane, die Schickimicki-Zicke, den ganzen Mist beantwortet hatte, hackte sie wieder auf mir herum: Rauchzeichen und so ...«, erzählte Kathrin.

»Du hast ihr doch hoffentlich keine blutige Nase verpasst?«, fragte Patrick vorsichtig.

»Na ja, ich habe ...«, Kathrin machte eine Pause und ihr fiel auf, das Patrick erstarrte. Damit es spannender wurde, verlängerte Kathrin die Pause, bevor sie ihr Geheimnis preisgab: »Ich habe ihr gesagt, dass meine Mutter mir Kleingeld für die Telefonzelle gegeben hätte, und ich im Notfall immer anrufen könnte.«

Patrick sah verdutzt aus.

»Sie hat es mir abgenommen«, sagte Kathrin ernst.

»Fast hättest du mich auch überzeugt, Kathrin.«

»Hey, du ...«, sagte Kathrin fröhlich und verpasste Patrick einen leichten Hieb mit dem Ellenbogen.

»Rolf und Juliane sind schon ein eigenartiges Paar«, schmunzelte Patrick. »Wie bist du denn auf Schickimicki-Zicke gekommen?«

Kathrin zuckte nur mit den Schultern.

»Schlecht sieht sie ja nicht aus«, zwinkerte Patrick ihr zu.

»Ja, wenn man auf Latino-Frauen mit seidigen, langen, blond gefärbten Haaren, makelloser Haut und langen, lackierten Fingernägeln und langen Beinen steht, dann ja.« Kathrins Stimme hatte bedrohlich liebenswürdig geklungen. »Stehst du etwa auf so etwas?«, fragte sie.

»Ich muss schon zugeben ... Juliane sieht wirklich extrem gut aus.« Patrick machte eine Pause, während er Kathrin genau beobachtete. »Aber, nein, auf so eine Art Mädchen steh ich nicht«, gab er offen zu.

»Okay«, sagte Kathrin, und ihr fiel ein Stein vom Herzen. Der milde Ausdruck in Kathrins Gesicht kehrte zurück. »Und auf was für eine Art Mädchen steht du?«, fragte sie.

Patrick lachte. Dann wechselte er das Thema. »Und dieser Rolf ist ein Möchtegernmacho und Angeber, der wegen seines Charmes und Aussehens bei den Mädchen total angesagt ist«, lästerte Patrick, »und eigentlich, ja, er hat eine blutige Nase verdient.«

Ein Windstoß kam auf, und Kathrins lange, lockige, rotbraune Haare wedelten vor Patricks Gesicht. Patricks braunes Haar flatterte im Wind, und seine blonde Strähne, die von Geburt an vorhanden war, fiel ihm in die Stirn.

»Ups«, sagte Kathrin.

Wieder fingen beide an zu lachen. Kathrin nahm ein Lederband aus ihrem Schulrucksack und band damit ihre Haare zusammen.

»Wie geht es eigentlich Charly?«, fragte Patrick interessiert und ergänzte: »Wir hatten ja mal zusammen etwas Gitarre gespielt, und er wollte sich deswegen noch mal bei mir melden.«

»Im Moment hat mein Bruder ziemlich viel um die Ohren, mit der Schule und so«, antwortete Kathrin. »Er ist mir auch noch einen Kinobesuch schuldig, aber er kommt im Moment einfach nicht dazu.«

»Du kannst Charly mal Grüße von mir bestellen«, sagte Patrick.

»Mach ich«, nickte Kathrin.

»Hab' gestern noch neue Musik downgeloadet.« Patrick zückte sein Smartphone aus der Hosentasche und tippte auf dem Display herum. Mittelalterliche Musik mit rockigem Rhythmus erklang.

»Cool«, sagte Kathrin begeistert. »Gefällt mir!« Sie hob den Daumen.

»Diese Band gibt nächsten Monat in München ein Konzert«, sagte Patrick vorsichtig. »Hast du Lust mit mir dort hinzugehen?«, tastete er sich heran.

»Tja, eigentlich ...«

»Es ist am Wochenende, und mein Vater fährt uns hin und holt uns wieder ab«, erzählte Patrick begeistert.

»Hast einen tollen Vater«, sagte Kathrin daraufhin.

»Ja.«

»Weiß noch nicht.« Kathrin zögerte. »Muss erst mal mit meiner Mutter darüber reden.«

»Okay.«

Sie wandten sich schweigsam dem See zu.

»Also, was kostet das ... Ticket denn?«, unterbrach Kathrin die Stille.

»Ich hatte vor, dich einzuladen.«

»Kommt nicht in Frage.«

»Warum nicht?«

»Ich kann mein Ticket selber bezahlen.« Kathrins Stimme hörte sich verärgert an.

»Weiß ich doch«, nickte Patrick, »aber ich will dich halt dazu einladen. Du kannst mir ja bei dem Konzert ein Bier ausgeben«, schlug er vor.

»Hm«, sagte Kathrin nur.

»Ach, komm schon, Kathrin«, sagte Patrick mit fester Stimme. »Sei nicht immer so hartnäckig, was das angeht.«

»Was was angeht?«, stutzte Kathrin und kniff die Augen gefährlich zusammen. »Und was soll das heißen, ich sei immer so hartnäckig?«

»Ich will mich nicht mit dir darüber streiten, Kathrin«, fing Patrick behutsam an. »Ich hatte nur gedacht, du würdest dich über eine Einladung freuen. Also, ich würde gerne mit dir dahingehen.«

Kathrin überlegte.

»Ja, okay«, fing Kathrin langsam an und sagte dann voller Reue: »Es tut mir leid, Patrick. Ich wollte dich nicht anschnauzen.«

»Ist schon okay«, winkte Patrick ab.

»Ist es nicht.« Kathrin senkte den Kopf. »Gibt es denn überhaupt noch Karten für das Konzert?«

»Nein«, schüttelte Patrick den Kopf. »Ausverkauft!«

Kathrin sah Patrick verdutzt an, doch bevor sie etwas sagen konnte, gab Patrick zu: »Hab die Karten für uns schon besorgt.«

»Du hast ...«, sagte Kathrin streng, doch dann lächelte sie Patrick lieb an: »Danke für die Einladung«, sagte sie schließlich. »Ich freue mich schon drauf.«

»Ich auch«, grinste Patrick zufrieden. »Hoffentlich hat deine Mutter nichts dagegen.«

»Ach, nein, glaube ich eigentlich nicht«, schüttelte Kathrin wissend den Kopf. »Wenn sie hört, dass dein Vater uns hin und wieder zurück bringt, wird sie dem zustimmen.«

»Super, freue mich schon auf den Abend«, lächelte Patrick glücklich.

»Ich auch«, nickte Kathrin und bedankte sich nochmals für die Einladung.

»Oh«, seufzte Patrick und warf einen kurzen Blick auf sein Smartphone. »Jetzt muss ich aber gehen, sonst ruft mich meine Mutter wieder an. Muss ja noch für sie einkaufen. Wenn ich das vergesse, bekomme ich heute Abend bestimmt Ärger mit meinem Vater.«

»Dein Vater ist schwer in Ordnung. Er nimmt sich sehr viel Zeit für dich«, stellte Kathrin fest.

»Ja.«

»Finde ich gut.«

»Dein Vater hat doch auch viel Zeit mit dir und deinem Bruder verbracht«, fing Patrick an. »Hast du mir zumindest so erzählt.«

»Das hat er getan«, nickte Kathrin zufrieden, »und meine Großmutter hat sich auch sehr viel um uns gekümmert«, ergänzte sie leise. »Aber darauf wollte ich eigentlich nicht hinaus, Patrick.«

»Trotzdem geht mir mein Vater manchmal auf den Wecker«, gab Patrick zu.

»Ja, das ist halt so«, sagte Kathrin betrübt. »Mit den Eltern gerät man schnell in Streit. Das war bei mir und meinem Vater genauso.«

»Worauf willst du denn hinaus, Kathrin?«, fragte Patrick direkt.

»Wenn du eines Tages jemanden verlierst, den du sehr geliebt hast, dann macht dich das ein ganzes Leben lang traurig«, klärte Kathrin ihn auf. »Und wenn du da etwas verbockt hast, kann es sein, dass du keine Möglichkeit mehr bekommst, es wieder in Ordnung zu bringen.«

»Ja, das ... aber ... ich hatte.« Patrick kam tatsächlich mal ins Stottern. »Du sprichst von deinem Vater, nicht wahr?«

»Ja, und von meiner Großmutter«, gab Kathrin zu. »Mit meinem Vater hatte ich mich vor seinem Tod gestritten und konnte ihm nicht mehr sagen, dass es mir leid tat. Und meine Großmutter wollte ich immer mal sagen, dass ich sie ganz toll finde, weil sie sich so um mich gekümmert hat, aber dann war sie auch schon tot.«

»Das tut mir leid, Kathrin.«

»Muss es nicht. Das waren bis jetzt die größten Fehler in meinem Leben, Patrick«, seufzte Kathrin schwer, »also, mach nicht die gleichen Fehler wie ich, Patrick.«

»Okay, werde ich nicht tun«, nickte Patrick ihr zu. »Danke, Kathrin«, ergänzte er noch.

»Schau, der Typ auf dem Paddelbrett.« Kathrin deutete auf den See, und schon fiel der junge Mann von eben wieder wie ein Kartoffelsack kopfüber ins Wasser.

Sie lachte wieder laut.

»Sollen wir gehen?«, fragte Kathrin.

Patrick nickte ihr zu und steckte das Smartphone in die Hosentasche zurück.

Kathrin zögerte.

»Was hast du?«, fragte Patrick.

»Nichts.« Kathrin schüttelte sich leicht.

»Jetzt sag schon, was du hast«, hakte Patrick nach.

»Das klingt vielleicht verrückt, aber es kam mir gerade so vor, als hätte mich jemand an der Schulter berührt.«

»Vielleicht war es der Wind«, stellte Patrick fest, als wieder ein Windstoß aufkam.

»Vielleicht.« Kathrin berührte das Medaillon, das sie an einer goldenen Halskette trug und von ihrer Großmutter geerbt hatte.

»Komm, wir gehen!«, sagte Kathrin schnell.

 

 

 

 

Mit Musik geht alles besser

Kathrin tröpfelte Schweiß den Rücken hinunter. Sie zupfte sich das feuchte T-Shirt, das wie aus den Achtzigern aussah, von der klebrigen Haut. Kathrin atmete wieder die schwüle Luft ein, und es kam ihr so vor, als würde sie in einem Dampfbad sitzen.

Verfluchte Hitze, dachte Kathrin. Ich hoffe, dass bei den Ritterspielen nicht so eine verdammte Hitzewelle herrscht.

Ein Schrei durchbohrte die Stille in der Wohnung, und im gleichen Augenblick erklangen rockige Rhythmen auf einer E-Gitarre. Es klingelte an der Haustür. Kathrin ging hin und öffnete sie.

»Hi, Kathrin«, sagte Kathrins Mitschüler Ben, der eine akustische Gitarre in der rechten Hand hielt und etwas verlegen dreinblickte.

»Hallo, Ben«, begrüßte Kathrin ihn freundlich und zog leicht die Augenbrauen dabei hoch. »Hallo, Patrick«, sagte sie fröhlich und wandte sich wieder Ben zu: »Hast du wieder Schokolade genascht?« Sie deutete mit einem kleinen Lächeln auf den Fleck neben dem auffälligen Muttermal auf Bens linker Wange.

»Ähm ... tja, also ... ich hatte Hunger und ...«, stotterte Ben verlegen und wischte mit dem linken Handrücken den Schokoladenfleck weg.

Kathrin atmete tief ein und zwinkerte ihm zu.

»Wir sind mit deinem Bruder verabredet«, sagte Patrick, der seine original kubanischen Bongos mitgebracht hatte und neben Ben stand. »Wir haben uns auf dem Schulhof unterhalten und sind auf die Idee gekommen, zusammen etwas Musik zu machen.«

»Ja, weiß ich schon«, nickte Kathrin.

»Ist das denn okay für die Nachbarn?«, fragte Ben vorsichtig, als er die wilden Klänge der E-Gitarre hörte.

»Ja«, bestätigte Kathrin. »Wir haben den Nachbarn schon gesagt, dass es eine Stunde etwas lauter werden kann.«

»Kommt«, winkte Kathrin die beiden herein.

»Hier, Kathrin«, sagte Patrick und überreichte ihr einen Pfeil mit einer handgeschmiedeten Metallspitze.

»Oh«, staunte Kathrin. »Warum denn das?«

»Habe zwei Pfeile auf dem Flohmarkt ergattert«, erzählte Patrick impulsiv. »Einen für dich und einen für mich.«

Kathrin freute sich über das Geschenk, das sie beim nächsten Bogenschießen mit Patrick ausprobieren wollte. Kathrin ging voraus. Patrick und Ben folgten ihr dichtauf. Kathrin öffnete eine Zimmertür und sagte: »Deine Kumpels sind da, Charly.«

»Super«, freute sich Charly, der mit seiner E-Gitarre auf dem Bett saß und einen Rhythmus zupfte.

Charly ging auf die gleiche Schule wie Kathrin, Ben und Patrick, aber er war eine Klasse weiter, denn Charly war ein Jahr älter als seine Schwester.

»Stehst wohl auf Rockmusik«, bemerkte Patrick.

»Nicht wirklich«, winkte Charly ab, stand auf und legte die E-Gitarre beiseite.

»Ich geh dann mal«, verabschiedete sich Kathrin.

»Kannst bleiben«, sagte Charly.

»Was soll ich hier?«, fragte Kathrin. »Hab's nicht so mit Instrumenten.«

»Vielleicht brauchen wir ja eine Sängerin, und da könnte ich mir vorstellen, dass du die Richtige dafür bist«, zwinkerte Charly ihr zu.

»Auwei, nein, bloß das nicht«, murmelte Kathrin.

»Warum nicht?«, wollte Charly wissen.

»Kann nicht singen«, antwortete Kathrin.

»Also, ich finde«, fing Ben langsam an, »dass du eine schöne Stimme hast.«

Kathrin wurde verlegen.

»Finde ich auch«, bestätigte Patrick und nickte.

Kathrin überlegte.

»Komm schon!«, forderte Patrick sie auf. »Wir sind unter uns. Was soll schon passieren? Hast du Angst dich zu blamieren?«

»Nein«, fuhr Kathrin ihn erbost an.

»Na, also, dann kannst du ja bleiben«, sagte Patrick.

»Okay«, brummte Kathrin ihn an, und zugleich warf sie ihm einen finsteren Blick zu.

Patrick war irritiert. »Ich wollte dich jetzt nicht ...«, wollte sich Patrick bei Kathrin entschuldigen, doch Kathrin sagte: »Ist schon gut, Patrick, vielleicht macht es ja doch Spaß.«

Kathrin unterdrückte ihre Scheu.

»Sollen wir einen Blues spielen?« Charly ergriff die Initiative. »Oder fangen wir mit etwas rockigerem an, zum Aufwärmen?«

Ben kratzte sich am Kopf. Patrick überlegte noch, und Kathrin machte einen Vorschlag: »Sollen wir mittelalterliche Musik spielen?«

Charly verzog leicht die Miene.

»Okay«, sagte Patrick begeistert.

»Bin auch dafür«, nickte Ben und fuhr sich dabei langsam mit der linken Hand durch sein lockiges, dunkelbraunes Haar.

»Von mir aus«, stimmte Charly zu. »Okay ... okay«, überlegte Charly, dann schlug er vor: »Wie wäre es, wenn du Geige spielst?«, fragte er Ben.

»Ich habe meine Gitarre mitgebracht«, antwortete Ben.

»Ich habe noch eine Geige«, sagte Charly und ergänzte schnell: »Also, dann spiele ich Geige, und du«, Charly zeigte auf Ben, »spielst Gitarre, und du Patrick, setzt die Bongos ein.«

»Was macht Kathrin?«, fragte Ben.

»Ich höre euch zu.«

»Nix da! Du machst mit«, befahl Charly.

»Ähm ... Ich weiß nicht ...« Kathrin fühlte sich wie eine Maus im Zimmer, in dem es von Trollen nur so wimmelt und andauernd die Gefahr bestand, von einem der mächtigen Füße zertrampelt zu werden.

»Kathrin?«, sagte Patrick, und seine Stimme schwoll an: »Patrick an Kathrin, melde dich.«

Kathrin fuhr vor Schreck zusammen.

»Hast du einen Tagtraum?«, lächelte Charly seine Schwester an.

Kathrin kniff die Augen zusammen und giftete stumm ihren Bruder an.

»Wir sind doch hier unter uns«, fing Patrick an. »Brauchst dich nicht zu schämen, wenn etwas nicht sofort klappt.«

»Tue ich ja auch nicht«, brummte Kathrin.

»Du kannst doch Flöte spielen«, sprach Charly seine Schwester an.

Kathrin nickte leicht.

»Hast du Lust dazu?«, fragte Charly.

Kathrin nickte wieder und ging ihre Flöte holen.

Als Kathrin zurückkam, saß Ben mit der Gitarre auf dem Bett. Patrick hatte es sich auf einem Hocker bequem gemacht und die Bongos vor sich aufgebaut. Charly stand mit der Geige neben Patrick und blickte erwartungsvoll in Richtung Kathrin.

»Was ist los, Kathrin?«, fragte Charly besorgt. »Du siehst so deprimiert aus. Ist es wegen der Musik? Also, wenn du absolut nicht mitspielen willst, dann hör einfach nur zu.«

Kathrin winkte ab. »Das ist es nicht. Mutter hat gerade angerufen, als ich meine Flöte geholt habe. Sie muss heute etwas länger arbeiten.«

»Hm, schon wieder«, sagte Charly.

»Ja«, nickte Kathrin und dachte daran, wie schwer es doch ihre Mutter hatte. Anderseits bewunderte Kathrin ihre Mutter, weil sie so taff war, sich ihre Sorgen nicht anmerken ließ und sich immer aufopfernd um sie und Charly kümmerte. Kathrin dachte wieder an ihren Vater, der vor vier Jahren tödlich verunglückt war und daran, dass in dem selben Jahr auch ihre Großmutter gestorben war. Es war wirklich ein hartes – ein beschissenes Jahr für alle Familienmitglieder gewesen. Besonders für ihre Mutter, nicht nur die Trauer musste sie bewältigen, sondern sie hatte auch zwei Kinder großzuziehen.

»Entschuldigt, Leute, aber ich musste gerade an meine Mutter denken und daran, wie schwer sie es hat«, gab Kathrin zu.

»Na, komm, Kathrin«, sagte Charly fröhlich. »Wir machen etwas Musik zusammen.«

»Jaja«, leierte Kathrin herunter.

»Du musst wissen, Kathrin«, wollte Charly sie trösten. »Mit Musik geht alles besser.«

Kathrin lächelte wieder leicht.

»Na, siehst du«, lächelte Charly zurück.

»Okay«, nickte Kathrin ihm zu.

Kathrin schloss die Tür und stellte sich an die Seite ihres Bruders, der sie mit einem breiten Grinsen ansah.

»Ben, du kannst ein paar rockige Klänge mit der Gitarre einbringen«, schlug Charly vor.

Ben nickte einverstanden.

»Und ich trommele mittelalterliche Rhythmen dazu«, sagte Patrick.

»Okay«, nickte Charly.

Patrick schlug ein Musikstück vor, das oft auf mittelalterlichen Festen gespielt wurde. Kathrin kannte das Lied und bekam von ihrem Bruder noch Anweisungen, wie und wann sie ihre Flöte einsetzen sollte. Und schon fingen sie an zu spielen. Kathrin hatte ihren Spaß beim Flöte spielen und später beim Singen. Patrick lobte Kathrins Stimme, und auch Ben war begeistert von ihr, und als Charly seine Begeisterung ausdrückte, bemerkte Kathrin, dass ihr warm wurde, und sie vermutete, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg.

Nach weiteren zwei mittelalterlichen Liedern, denen sie rockige Rhythmen verpassten, stellte Kathrin fest, dass ihr Bruder Recht hatte: Mit Musik geht alles besser.

Dann kam Charly auf eine Idee, die alle begeisterte: »Wir gründen eine Band.«

 

 

 

 

Der mysteriöse Fremde

Kathrin hatte an diesem Abend noch die ganze Hausarbeit erledigt und war hundemüde. Sie ging früh zu Bett, schlief sofort ein und fing an zu träumen.

 

 

Kathrin stand am Ortsrand auf einer verlassenen Straße, die an einem Moor vorbeiführte. In der Ferne sah sie ein Meer, über dem in dieser Nacht ein leuchtender Mond stand. Ein Sturm wütete. Heftige Windböen schüttelten die Laubbäume am Straßenrand. Als Kathrin den Ort betrat, schien er verlassen zu sein. Bunte Häuser säumten ihren Weg, die Fenster waren zum größten Teil zerstört. Kein Licht brannte, keine Menschenseele war zu sehen.

Eine Geisterstadt, dachte Kathrin, und als sie um die nächste Ecke bog, flüsterte ihr eine Stimme sanft ins Ohr: »PARM – BLUTMOORE.«

War Parm etwa der Name dieses Ortes, der, wie es Kathrin nun erschien, einer Naturkatastrophe zum Opfer gefallen sein musste?

Sie schrak zusammen, als hinter ihr Hufe über das Straßenpflaster klapperten. Kathrin fuhr herum, aber niemand war zu sehen. Als sie sich wieder umwandte, stand sie vor einem schneeweißen Pferd, auf dem ein silberhaariger Elb saß und stumm auf sie herabblickte. Der Elb hatte zwar weiche Gesichtszüge, aber die Verächtlichkeit, mit der er Kathrin ansah, ließ sie vor ihm erschaudern. Der Elb trug einen feinen, ledernen Kampfanzug und einen Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken. Kathrin warf einen Blick auf den Bogen, der an der rechten Sattelseite des Pferdes befestigt war.

Kathrin bemerkte, wie der Elb einen Blick auf ihre ausgebeulte Jeans warf und dann ihre bunte Bluse betrachtete.

»Du bist nicht von hier«, sagte er mit einer sanften, aber bestimmenden Stimme.

»Ähm ... tja, also ...«, stotterte Kathrin und wusste nicht, was sie sagen sollte. »Also, ich komme von ...«

»Ist auch egal, woher du kommst«, winkte der Elb ab. »Hier gehörst du auf jeden Fall nicht hin.«

»Okay«, leierte Kathrin herunter und dachte: Du kannst mich mal!

Der Elb kniff die Augen zusammen. Kathrin dachte für einen Augenblick, dass der Elb ihre Gedanken gelesen hätte. Dann schoss ihr ein nächster Gedanke durch den Kopf: Ein Traum. Es ist ein Traum.

Kathrin atmete erleichtert aus und war sich sicher, dass es sich hier um einen Traum handelte. Der Elb wandte sich im Sattel um. Kathrin kam es so vor, als würde er nach etwas Ausschau halten. War der Elb etwa nicht allein? Wurde er verfolgt? War er auf der Jagd oder wurde er gejagt? Der Wind nahm an Stärke zu, und ein markerschütterndes Knurren übertönte plötzlich den Sturm.

Kathrin blickte an dem Elb vorbei, und am Ende der Straße ragte eine schattenhafte Gestalt auf. Kathrin trat einen Schritt zurück und stolperte dabei.

»Er ist also hier«, murmelte der Elb und wandte sein Pferd der finsteren Gestalt zu.

Kathrin konnte die Gestalt nicht genau sehen, aber sie konnte dieses Etwas knurren hören. Das Ding machte ihr eine höllische Angst. Der Elb wandte sich Kathrin zu: »Los!«, sagte er barsch. »Verschwinde von hier! Schnell!«

Das brauchte der Elb ihr kein zweites Mal zu sagen. Kathrin jagte um eine Straßenecke davon. Außer Atem erreichte sie einen Platz, der von Läden gesäumt und eine Sackgasse war. Sie wollte umkehren, doch als sie ein lautes Wolfsheulen hörte, machte sie kehrt und rannte auf die nächstgelegene Tür zu, die eben vom Sturm aufgeweht worden war. Das Schild über der Tür trug die Aufschrift: Handgeschmiedete Waffen.

Kathrin stürzte hinein und ließ sich hinter ein Regal fallen, auf dem lange und kurze Dolche und Armbrüste ausgestellt waren. Kathrin bemerkte, dass sie am ganzen Leib zitterte. Instinktiv griff sie nach einem Dolch mit gezackter Klinge. Ihr Leben wollte sie so teuer wie möglich verkaufen.

Sie hörte ein Knurren. Der Schatten des Ungeheuers bewegte sich am Ladenfenster vorbei. Dann stand das Etwas in der Tür, und Kathrin konnte dieses Etwas riechen – eine Übelkeit erregende Kombination von nassem Fell und vergammeltem Fleisch.

Kathrin kauerte zitternd hinter dem Regal und hatte den Dolchgriff fest umklammert. Der Schatten des Ungeheuers zog an ihr vorbei. Sie hob den Kopf und erhaschte einen Blick auf eine wolfsähnliche Kreatur, die abrupt stehenblieb und sich Kathrin zuwandte.

Es herrschte mit einem Mal Totenstille. Nur das Regal trennte sie von diesem Ungeheuer. Kathrin und die wolfsähnliche Kreatur sahen sich durch das Regal hindurch an.

Kathrin holte tief Luft. Es ist ein Traum, sagte sie sich immer wieder vor, doch der beißende Geruch, ihr zitternder Körper und der faulige Atem der Kreatur, ließ sie daran zweifeln.

»Was willst du von mir? Was?«, schrie Kathrin und hob den Dolch zur Abwehr.

Da loderte ein Blitz vor dem Laden auf. Sekunden später explodierte die Frontseite des Ladens, und eine dunkle Stimme rief: »Lass sie in Ruhe!«

Der Wolf wandte sich der Stimme zu, während ein alter Mann mit langen, grauen Haaren und grauem Bart den Laden betrat. Der Wolf knurrte ihn leicht an.

Kathrin zitterte am ganzen Leib, während die Umgebung vor ihren Augen langsam verblasste. Der alte Mann trat vor und sagte ärgerlich: »Los, komm her, Dawin! Wir müssen von hier verschwinden.«

Kathrin nahm die Gestalten nur noch schemenhaft wahr, aber sie bekam noch mit, dass der Wolf plötzlich verschwunden war und der alte Mann einem jungen Mann gegenüberstand.

»Sie ist es«, sagte der jüngere Mann aufgebracht. »Sie ist es«, wiederholte er.

»Ja, ich weiß«, nickte der alte Mann ihm zu.

 

 

Zitternd fuhr Kathrin in ihrem Bett hoch. Ihre rechte Hand hielt immer noch den imaginären Dolchgriff umklammert. Sie atmete hastig und versuchte sich zu orientieren.

Es gab keinen Sturm. Es gab auch kein Ungeheuer. Der Elb und der alte Mann waren auch verschwunden. Das morgendliche Sonnenlicht fiel durch das Fenster neben ihrem Bett.

Kathrin glaubte einen Schatten über das Fensterglas huschen zu sehen – eine menschliche Gestalt mit langen Haaren und Bart. Doch dann wurde an ihrer Schlafzimmertür geklopft, und ihre Mutter rief: »Kathrin, du kommst zu spät zur Schule!«

»Ja, Mom«, rief Kathrin. »Ich komme gleich.«

»Sofort!«

»Bin schon unterwegs«, brachte sie müde heraus.

Kathrin war erleichtert die Stimme ihrer Mutter zu hören. Erst jetzt bemerkte Kathrin, dass sie mit der rechten Hand immer noch den imaginären Dolchgriff umklammerte. Langsam löste sie den Griff, atmete erleichtert ein und wieder aus, dann stand sie auf.

Nach der Dusche saß Kathrin zusammen mit ihrer Mutter am Frühstückstisch. Charly war schon fertig und aus dem Haus gegangen.

»Was ist heute mit dir los, Kathrin?«

»Nichts.«

»Du wirkst so abwesend.«

»Hatte einen blöden Traum.«

»Oh«, sagte ihre Mutter nur.

»Nach der Schule geh ich zu Frau Dorfner, in den Buchladen«, sagte Kathrin. »Muss mir noch ein Buch über griechische Geschichte besorgen.«

»Ist gut«, sagte ihre Mutter. »Heute arbeite ich mal nicht so lange.«

»Das ist schön«, freute sich Kathrin.

Heute hatte ihre Mutter ihre langen, braunen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Steht dir gut«, sagte Kathrin.

»Was?«

»So wie du dein Haar trägst.«

»Danke«, lächelte sie vergnügt.

Kathrins Mutter servierte eine frisch gemachte Waffel zum Frühstück – dies war eines von Kathrins Lieblingsspeisen. Die Waffel schmeckte wie immer großartig, doch Kathrin verschlang sie nicht wie sonst. Ihre Mutter sah sie mit gerunzelter Stirn an und fragte: »Ist wirklich alles in Ordnung?«

Kathrin nickte stumm, doch dann antwortete sie: »Ja ... wirklich, Mom. Brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen.«

Kathrin war bewusst, dass ihre Mutter wie immer wusste, wenn ihr etwas zu schaffen machte. Kathrin musste immer wieder an ihren verrückten Traum denken, der ihr so realistisch vorkam, dass sie davon noch jede Szene und sogar noch jedes Wort im Kopf hatte.

»Dann bin ich mal weg«, sagte Kathrin und trank ihre Tasse Tee aus. »Bis nachher«, verabschiedete sie sich von ihrer Mutter.

 

 

Heute war es total easy in der Schule gewesen – keine Hausaufgaben, kein Referat zum Vorbereiten. So konnte Kathrin sich Zeit für den Buchladen nehmen. Patrick hatte seiner Mutter versprochen, dass er mit ihr zum Einkaufen fahren wollte, deswegen machte er sich auf den Heimweg. Ben wollte auch nach Hause, um Gitarre zu spielen. Kathrin machte sich also auf den Weg zum Bus, um ins Nachbardorf zu fahren, wo der Buchladen war. Kathrin hatte Glück, der Bus war pünktlich, sodass sie bereits eine Viertelstunde später im Buchladen war.

Als Kathrin den Buchladen betrat, schreckte sie unwillkürlich zusammen. Es stand ein graubärtiger Mann vor ihr, der sie an den alten Mann aus ihrem Traum erinnerte.

»Guten Tag«, begrüßter der Mann sie höflich, der ein graues Gewand und eine dunkelgraue Hose trug. Kathrin fielen die halbhohen, mittelalterlichen Schuhe ins Auge.

»Hallo«, sagte Kathrin zaghaft.

Sie blickten sich schweigend an.

»Wo ist Frau Dorfner?«, wollte Kathrin wissen. »Sie ist doch nicht krank?«, fragte Kathrin erschrocken und machte sich ernsthafte Sorgen um die sechzigjährige Hildegard Dorfner. Kathrin dachte an Frau Dorfner mit ihrer großen Hornbrille und ihrer kunterbunten Kleidung.

»Nein ... nein. Sie ist wohlauf«, sagte der Mann und beruhigte Kathrin sofort: »Ich bin ein guter Freund von Hildegard und vertrete sie hier nur solange, bis sie wieder zurück ist. Sie besucht ihre Kinder.«

»Gut«, sagte Kathrin mit einer erleichterten Stimme. »Ich suche ein Buch über griechische Mythologie.«

»Ah«, hauchte der Mann. »Hast du ein bestimmtes Buch im Sinn?«

»Nein«, sagte Kathrin sofort.

»Dann schau dich mal dort ein wenig um«, sagte der ältere Mann und deutete auf ein Regal in der Ecke. »Wir haben nicht viele Bücher über dieses Thema auf Lager. Kann dir aber auch eins bestellen. Du kannst auch den Computer dort für deine Suche nutzen.«

»Danke!«

»Wenn du Hilfe brauchst, sag mir Bescheid.«

»Ja.«

Kathrin tat es Leid, dass die Ladenbesitzerin nicht da war, denn sie war immer so nett, und meistens – na ja, eigentlich immer, wenn man Zeit mitbrachte – bereitete sie einen Tee zu und erzählte einen Schwank aus ihrem Leben. Kathrin ging zum Bücherregal.

»Übrigens, mein Name ist Argon«, rief der fremde Mann ihr hinterher.

Kathrin wandte sich ihm zu. »Ich heiße Kathrin. Kathrin Mitchell.«

»Dann viel Erfolg beim Stöbern, Kathrin«, sagte Argon freundlich.

»Danke«, sagte Kathrin und musterte Argon noch einmal kurz. Er sah aus, wie man sich einen Zauberer vorstellte.

 

 

 

 

Teestunde mit Argon

Kathrin fluchte leise, weil sie kein passendes Buch über griechische Mythologie entdeckt hatte. Sie wusste eigentlich nicht genau, welches Buch sie überhaupt suchte, aber von denen hier war keines das Richtige. Argon hatte ihr ja erlaubt, den Computer zu benutzen. Ob sie dort das richtige Buch fand? Sie schlenderte zum Computer und nahm auf einem Hocker Platz. Argon hatte die Webseite aufgerufen, womit er die Bücher orderte. Kathrin legte los.

»Soll ich dir helfen?«, fragte Argon.

»Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich schau mich erst Mal alleine um«, gab Kathrin zurück.

Argon ging seiner Beschäftigung nach und räumte Bücher ins Regal ein.

»Hm«, grübelte Kathrin und klickte eine Reihe von Büchern durch. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass es so viele Bücher über griechische Götter- und Sagengeschichten gab. Da konnte doch niemand einen Durchblick behalten.

Kathrin war so vertieft in ihrer Suche, dass sie die Stimme an ihrer Seite zwar wahrnahm, aber nicht darauf reagierte. Aber dann packte Kathrin eine Hand an der Schulter, und sie quiekte wie eine verschreckte Fledermaus.

»Oh! Entschuldigung, Kathrin«, sagte Argon. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Schon gut«, winkte Kathrin ab.

»Hast du schon ein passendes Buch gefunden?«, wollte Argon wissen.

»Nein«, schüttelte Kathrin deprimiert den Kopf.

»Möchtest du einen Tee?«, fragte Argon unerwartet. »Ich kann uns eine Kanne aufschütten.«

»Oh, ja ... gerne«, nickte Kathrin begeistert. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Nein«, sagte Argon. »Hast du einen Teewunsch?«

Kathrin schüttelte leicht den Kopf.

»Dann geh ich mal nach hinten und bereite den Tee zu«, sagte Argon. »Du kannst dich ja schon mal dort an den Tisch setzen.« Argon deutete in die rechte Ecke, wo der kleine, runde Holztisch stand, an dem Frau Dorfner auch immer den Tee servierte. Kathrin nahm auf einem Stuhl Platz und wartete geduldig, bis Argon mit einem Tablett wiederkam.

»So, dann wollen wir mal«, sagte Argon, stellte das Tablett auf den Tisch und verteilte die Tassen. Das Milchkännchen und den Zuckertopf stellte er mittig auf den Tisch. Dann ging er mit dem Tablett nach hinten und kam mit einer Keramikkanne Tee und einem Stövchen zurück. Schweigsam goss Argon den Tee in die Tassen ein.

»Danke«, sagte Kathrin.

»Hoffentlich schmeckt er dir.«

Kathrin nahm einen Schluck zu sich.

»Er ist sehr gut«, lobte Kathrin den Tee.

Argon lächelte zufrieden.

Kathrin nahm noch einen Schluck zu sich. Der Tee hatte genau die richtige Temperatur für sie. Er war grün und wohlriechend. Sie blickte in die Tasse, in der Flüssigkeit wirbelten Bruchstücke von Teeblättern.

»Mmm«, sagte Kathrin, als sie die Tasse abstellte.

»Freut mich, dass er dir schmeckt.«

»Es ist lange her, dass ich einen Oolong getrunken habe«, stellte Kathrin fest.

Argon nickte und strahlte Kathrin an. »Du kennst dich mit Tee gut aus«, lobte er sie.

»Ja, ich trinke gerne Tee«, erzählte Kathrin, »aber ohne Zucker und auch ohne Milch.«

»Das brauche ich auch nicht«, schüttelte Argon den Kopf. »Verfälscht nur den guten Geschmack des Tees.«

»Ja, so ist es«, bestätigte Kathrin.

»Da hast du aber ein schönes Medaillon«, bemerkte Argon.

»Ja, es ist wunderschön«, sagte Kathrin stolz und berührte kurz das runde Medaillon, das sie an einer goldenen Halskette trug. »Ich habe es von meiner Großmutter geschenkt bekommen.«

»Ein schönes Geschenk«, erwiderte Argon.

»Ja.«

Kathrin legte die Halskette ab und betrachtete sich den Haken-Ösen-Verschluss. Auf der Öse waren drei und auf dem Haken vier symbolische Schriftzeichen zu erkennen.

»Weißt du, was die Zeichen auf dem Verschluss für eine Bedeutung haben?«, fragte Argon interessiert.

»Nein«, schüttelte Kathrin den Kopf. »Das ist auch einer der Gründe, warum ich ein Buch über griechische Mythologie suche.«

»Ach ja«, sagte Argon.

»Meine Großmutter hat vor ihrem Tod noch gesagt, dass dieses Medaillon aus Griechenland stammt.«

»Oh, aus Griechenland also.«

»Ja«, bestätigte Kathrin und sah Argon direkt in die Augen. »Genaues habe ich über das Medaillon leider nicht mehr erfahren.« Kathrin fühlte sich plötzlich elendig. »Meine Großmutter ist vorher gestorben.«

»Oh, das tut mir leid, Kathrin.«

»Es sind jetzt schon über vier Jahre vergangen, dass meine ...« Kathrin schluckte und legte die Halskette wieder an.

»Wie ist sie denn gestorben?«, wollte Argon wissen.

Kathrin stutzte, aber dann antwortete sie: »An Herzversagen.«

»Du hast sie sehr gern gehabt, nicht wahr?«

»Ja, sehr sogar.«

»Deine Großmutter wird immer bei dir sein«, sagte Argon und deutete auf sein Herz. »Und zwar genau hier, Kathrin«, sagte er. »Außerdem hat sie dir ein mächtiges Medaillon vermacht, dass dich beschützen soll ...« Argon verstummte.

»Als so eine Art Talisman?«, fragte Kathrin.

»Ja«, nickte Argon, leicht »als so eine Art Talisman«, bestätigte er ihr mit einem ernsten Gesicht.

Kathrin trank die Tasse aus.

»Möchtest du noch eine Tasse Tee?«, fragte Argon.

»Gerne«, sagte Kathrin direkt. »Falls sie noch etwas Zeit haben«, ergänzte sie.

»Natürlich«, sagte Argon, trank seinen Tee aus und schenkte Kathrin und sich noch eine Tasse Tee ein.

»Danke«, sagte Kathrin.

Argon nickte freudig.

Argon griff nach der Teetasse und sagte: »Mal überlegen, was für ein Buch ich dir empfehlen könnte.« Kathrin trank einen Schluck Tee und hörte Argon aufmerksam zu, der sagte: »Ah, ja, da hätte ich ein paar Buchtipps für dich. Nach dem Tee setzen wir uns gemeinsam an den Computer und sehen nach, ob es die Bücher noch neu zu kaufen gibt. Ansonsten könntest du sie ja auch gebraucht kaufen«, schlug Argon vor. »Da kenne ich eine tolle Webseite für gebrauchte Bücher. Wie hieß sie bloß?«, murmelte er.

»Vielen Dank.«

»Noch haben wir ja kein Buch gefunden.«

»Ja, aber trotzdem. Sie geben sich viel Mühe ...«

»Mach ich doch gerne«, fiel Argon ihr ins Wort, trank seinen Tee aus und blickte in die Tasse. »Hm«, sagte er.

»Was haben sie?«

»Die Teeblätter ...«

»Ach, sie lesen aus dem Teesatz?«, lächelte Kathrin.

»Ja, das tue ich, manchmal.« Argons Stimme klang ernst.

Kathrin wurde ebenfalls ernst. Sie wollte nicht, dass Argon auf falsche Gedanken kam und dachte, dass sie sich lustig über ihn machen würde. Obwohl Argon einen mysteriösen Eindruck auf Kathrin machte, fand sie ihn sehr sympathisch. Er war sehr freundlich und hilfsbereit.

»Woher wissen Sie darüber bescheid?« Kathrin wurde neugierig.

»Es wird bei mir von einer Generation zur nächsten weitergegeben«, antwortete Argon.

»Können Sie mir aus meinem Teesatz lesen?«, fragte Kathrin.

»Aber sicher«, nickte Argon vergnügt, »dann zeig mal her.«

Kathrin überreichte Argon die Teetasse. Er stellte sie behutsam vor sich auf den Tisch und blickte in die Tasse hinein. Sein Blick wirkte überrascht, und als er sagte: »Oh!«, zuckte Kathrin zusammen.

Kathrin beobachtete, wie Argons Falten zu beiden Seiten seines Mundes tiefer geworden waren.

»Was haben Sie denn?«, fragte Kathrin.

Argon hatte die Augenbrauen zusammengezogen.

»Also ...«, sagte Argon schließlich. »Das ist schon seltsam«, murmelte er.

»Was?« Kathrin sah ihn fordernd an.

»Du wirst schon bald eine Reise antreten ...«, sagte Argon.

»Ich?«, zuckte Kathrin zurück. »Ich glaube, da irren Sie sich, denn für Reisen haben wir kein Geld.« Teeblätter, die wissen sollen, dass ich eine Reise antreten werde? Das ist doch völliger Blödsinn, dachte Kathrin.

»Hm, das ist ...«, grübelte Argon immer noch, »das ist schneller, als ich dachte«, sagte er leise. Kathrin sah ihn fragend an, doch Argon lenkte das Gespräch rasch auf ein anderes Thema: »Sollen wir mal nach deinen Büchern suchen?«

Kathrin nickte.

»Dann komm mal mit!«, sagte Argon mit ernster Miene. Argon nahm vor dem Computer Platz. Kathrin saß links neben ihm. Argon fand heraus, dass es die Bücher nicht mehr neu zu bestellen gab. Argon überlegte, und schließlich fiel ihm die Webseite ein, auf der man antiquarische Bücher bestellen konnte.

»Dass mir diese Seite entfallen war ...«, schüttelte er den Kopf und lächelte Kathrin an: »Das ist das Alter.«

»Sie sind doch noch nicht alt, Herr ... Herr ...«, schmeichelte Kathrin, und ihr fiel nun auf, dass sich Argon nur mit seinem Vornamen vorgestellt hatte.

»Du darfst mich Argon nennen und auch duzen«, schlug er vor. »Also, falls du nichts dagegen hast.«

»Ähm, nein, Herr ...«, sagte Kathrin und korrigiert sich: »Nein, Argon, also ... natürlich können wir uns duzen«, nickte Kathrin einverstanden.

Schnell zeigte Argon ihr zwei sehr interessante Bücher, die vom Preis her auch noch günstig waren. Er druckte die Informationen zu den Büchern und zu der Webseite aus, bei der Kathrin dann bestellen konnte.

»Dankeschön«, sagte Kathrin und verabschiedete sich.

Auf das Lesen aus dem Teesatz kamen sie nicht mehr zu sprechen.

 

 

 

 

Traue niemals einem Fremden

Kathrin hatte gute Laune. Diese Nacht hatte sie besonders gut geschlafen. Kein Albtraum hatte sie heimgesucht. Das Zittern an ihrem Körper kam durch die morgendliche Kälte, die durch das geöffnete Fenster in das Zimmer hineinströmte. Kathrin atmete tief ein und ging in die Küche. Ihre Mutter hatte das Frühstück vorbereitet.

»Morgen, Mom.«

»Morgen, Kathrin.«

»War doch nicht nötig, Mom«, sagte Kathrin.

»Hab ich doch gerne gemacht«, nickte ihre Mutter fröhlich.

»Du tust doch so viel für Charly und mich«, meinte Kathrin.

»Bist heute aber gut gelaunt«, stellte ihre Mutter fest.

»Es ist Wochenende«, grölte Kathrin. »Und die Ritterspiele.«

Kathrins Mutter lächelte leicht.

»Pennt Charly etwa noch?«, fragte Kathrin, als sie das unangetastet Gedeck für ihn anstarrte.

»Schön, deine Stimme zu hören.« Kathrin zuckte zusammen, als hinter ihr Charlys Stimme ertönte.

»Morgen, Charly«, lächelte Kathrin gequält.

»Jaja«, sagte Charly nur und nahm am Tisch Platz.

»Oh, es gibt Waffeln«, schwärmte Charly. »Gehst du heute zu den Ritterspielen?«, wandte sich Charly seiner Schwester zu.

»Klar.« Kathrin strahlte über das ganze Gesicht. »Das lass ich mir doch nicht entgehen.«

Kathrin bekam die erste und Charly die zweite Waffel auf den Teller gelegt.

»Danke, Mom«, sagte Kathrin. »Gehst du auch zu den Spielen?«, wandte sich Kathrin ihrem Bruder zu.

»Nein, das ist nicht so mein Ding«, schüttelte Charly den Kopf. »Hab heute etwas anderes vor.«

»Okay«, sagte Kathrin und verschlang die Waffel mit großem Appetit.

»Gehst du mit deinem Freund dorthin?«, wollte Charly wissen.

Kathrin blieb fast der Bissen im Hals stecken.

»Na, mit Patrick«, sagte Charly, als keine Antwort von Kathrin kam.

Kathrin wurde heiß, und sie vermutete stark, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg, als sie brummte: »Das ist doch ... du bist manchmal ganz schön fies, Bruder.«

»Oh, Entschuldigung, Schwesterchen«, sagte Charly. »Wollte dich nicht kränken«, betonte er.

Kathrin warf einen flüchtigen Blick zu ihrer Mutter, die schweigsam ihre Waffel aß und leicht lächelte.

»Ja, Patrick kommt mich abholen, und wir gehen zusammen zum Fest«, antwortete Kathrin mit fester Stimme. »Patricks Vater fährt uns hin und holt uns auch wieder ab.«

»Oha, also habt ihre eine Anstandsdame dabei«, stellte Charly fest und lachte.

»Blödmann«, brummte Kathrin.

»Kathrin«, ermahnet ihre Mutter sie.

»Ist doch wahr«, brummte Kathrin weiter. »Warum hackst du immer auf diesem Thema herum?«, wollte Kathrin endlich von ihrem Bruder wissen.

»Ach«, winkte Charly ab. »Nimm nicht immer alles so ernst.«

»Hm«, stieß Kathrin nur hervor.

»Wer möchte noch eine Waffel?«

»Gerne«, sagte Charly. »Gib aber erst Kathrin eine«, ergänzte er, als seine Mutter ihm eine Waffel auf den Teller legen wollte.

Kathrins ernste Gesichtszüge entspannten sich ein wenig.

»Danke«, sagte Kathrin.

»Waffenstillstand?«, fragte Charly.

Kathrin nickte.

»Wann kommt ... ähm ... Patrick ... ähm ... dich denn abholen?«, plapperte Charly.

Kathrin kniff die Augen zusammen.

»Ich wollte nur wissen, wann du zum Fest gehst«, verteidigte sich Charly. »Ehrlich«, ergänzte er.

»In etwa einer Stunde«, antwortete Kathrin. »Kann ich zuerst ins Bad?«, fragte sie zögernd.

»Klar«, nickte Charly.

»Danke.«

 

 

Kathrin hatte ihr mittelalterliches Kleid angezogen und prüfte ihr Aussehen im Schrankspiegel. Das weinrote Kleid aus reinem Leinen mit einer langen Kapuze hatte noch ihre Großmutter für sie geschneidert. Es war A-förmig geschnitten und mit weit ausgestellten Ärmeln. An den Oberarmen war jeweils eine passende Borte zum Hauptfarbton angebracht. Voriges Jahr konnte Kathrin das Kleid noch nicht tragen. Es war ihr zu groß gewesen. Aber in diesem Jahr passte es wie angegossen.

Kathrin prüfte im Spiegel die Rückenschnüre, mit der sich das Kleid taillieren und hervorragend an ihre Figur anpassen ließ.

Kathrin legte ein breites, schwarzes Lederband mit Messingapplikationen um den Hals. Ihre langen, lockigen, rotbraunen Haare hatte sie mit einem schmalen Lederband zusammengebunden. Auf der linken Seite hatte sie sich vier Haarsträhnen geflochten, die seitlich herunterhingen.

Kathrin griff nach einer braunen Gürteltasche aus Nubukleder, auf der zwei bernsteinfarbene Beschläge angebracht waren. Sie zog einen langen Ledergürtel durch zwei Schlaufen an der Tasche und hing sich den Gürtel um die Taille. Die Gürteltasche trug sie an der rechten Seite. Sie strich gedankenvoll über die Tasche und erinnerte sich, wie ihre Großmutter sie angefertigt hatte. Ja, ihre Großmutter war eine ganz besondere Frau gewesen.

Kathrin schlüpfte in abgetragene, braune Sandalen – mittelalterliche Schuhe besaß sie keine, aber das machte ihr nichts aus.

Beim letzten Burgfest hatte Patrick ihr einen offenen Ring aus der Wikingerzeit geschenkt, an dessen Öffnung sich je ein Drachenkopf befand, die sich gegenüberstanden. Sie steckte das wertvolle Stück besonnen an den Ringfinger.

Kathrin betrachtete sich im Spiegel und strich mit dem Zeigefinger über ihre wenigen Sommersprossen. Von Schminke hielt sie nicht viel, deswegen blieb sie so wie sie war.

»Okay ... gut so«, nickte sie. »Dann geh ich mal zu Mom.«

 

 

»Oh«, staunte ihre Mutter. »Du siehst wirklich ganz besonders schön aus.«

»Findest du?«

»Ja«, bestätigte ihre Mutter mit einem Nicken. »Das sage ich nicht nur so. Also, Patrick wird bestimmt begeistert sein.«

»Hallo, Schwester ...«, erklang die Stimme ihres Bruders hinter ihr, und Kathrin wandte sich ihm zu. »Wow«, staunte Charly. »Du siehst fabelhaft aus.«

»Dankeschön«, brachte Kathrin leise hervor.

»Da muss Patrick aber höllisch aufpassen.«

»Hm.«

»Die Jungs werden bestimmt ganz ver...« Charly brach mitten im Satz ab. »Also, dann wünsch ich dir viel Spaß beim Fest.«

»Danke, Charly.«

Es klingelte.

»Ich mach schon auf«, sagte Charly schnell.

»He, warte auf mich!«, stieß Kathrin hervor.

»Traust du mir etwa nicht?«

»Genau.«

Charly lachte herzlich.

Kathrin öffnete die Tür.

»Hallo, Patrick«, begrüßte Kathrin ihn mit einem fröhlichen Lächeln.

»Ja, hallo, Patrick«, sagte Charly grinsend. »Was ist denn mit dir los? Hast du deine Stimme verloren?«

»Ähm, nein ... Was? ... Du siehst toll aus, Kathrin«, stammelte Patrick. »Weinrot steht dir gut ...«

»Ja, das tut es«, fiel Charly ihm ins Wort, machte einen Schritt auf Patrick zu und flüsterte: »Wenn du meiner Schwester zu nahe kommst, dann kann dich niemand mehr vor mir beschützen, Patrick. Ich warne dich und zwar nur einmal!«

»Wie? ... Was?«, stotterte Patrick.

»Merke dir gut, Patrick, mein Freund! Mein Name ist Jon Schnee«, nickte Charly langsam. »Und ich bin von den Toten auferstanden, um mein Königreich und meine Schwester zu beschützen, und genau das werde ich ...«

»Ach, sei mal still, Charly«, unterbrach Kathrin ihn und schlug ihm als Warnung den Ellenbogen leicht in die Seite.

»Aua«, brummte Charly. »Das hat wehgetan.«

»Mein Bruder macht nur Spaß«, lächelte Kathrin Patrick an.

»Ja ...«, sagte Patrick. »Wirklich?«

Charly lachte laut.

»Dann bis nächste Woche, Patrick. Wir sehen uns bei der Musikprobe«, verabschiedete sich Charly von den beiden und klopfte Patrick freundschaftlich auf die Schulter.

Patrick trug ein beiges Leinenhemd, darüber eine stabile Rüstung aus robustem, braunem Leder, die mit vier Schnallen im Brustbereich geschlossen wurde.

»Wofür sind denn die Schnüre an den Seiten?« Charly war neugierig geworden.

»Durch die Schnüre lässt sich die Lederrüstung wunderbar anpassen«, erklärte Patrick.

»Schicke Stiefel«, bemerkte Charly, und sein Blick wanderte die beige Hose hinab, zu den braunen Halbstiefeln mit Knebelknöpfen.

»Hab ich mir letztes Jahr gekauft«, sagte Patrick.

»Ich bin dann mal weg«, sagte Charly.

»Bis dann«, sagte Patrick.

»Ja, geh schon, du Nervensäge«, donnerte Kathrin hervor.

Charly lachte und verschwand.

»Er hat wirklich nur Spaß gemacht«, sagte Kathrin nochmals, als Charly schon fort war.

»Willst du noch reinkommen?«, fragte Kathrins Mutter, die nun dazugekommen war.

»Mein Vater wartet im Auto«, antwortete Patrick und verabschiedete sich von Kathrins Mutter.

»Viel Spaß euch beiden«, rief sie ihnen noch hinterher. »Ihr seid ein schönes Paar«, ergänzte sie noch.

»Danke, Mom«, rief Kathrin zurück und bemerkte, dass es ihr heiß wurde, und sie vermutete, dass ihre Wangen dabei rot wurden. Ich und Patrick ein Paar, dachte Kathrin. Ja, irgendwie fühlt sich das gut an, wenn ich mit Patrick zusammen bin. Ob er auch so empfindet?

»Jetzt fehlt mir noch ein Schwert, das ich mir an den Gürtel hängen kann«, schmollte Patrick. »Mein Vater erlaubt es mir noch nicht. Er denkt, ich bin zu jung dafür.« Kathrin zuckte nur mit den Schultern.

Patrick trug rechts, an einem braunen Ledergürtel, eine kleine braune Ledertasche.

Dann sagte Kathrin: »Ist doch egal. Das Kostüm ist auch ohne Schwert eine Wucht.«

»Hier, diese Armschienen hat mein Vater für mich besorgt«, sagte Patrick etwas wütend.

»Ist doch toll von ihm«, bemerkte Kathrin.

»Ja, ist es auch«, leierte Patrick herunter. »Aber ein Schwert wäre mir lieber gewesen.«

Kathrin zuckte wieder mit den Schultern.

Um beide Unterarme trug Patrick robuste, braune Armschienen aus echtem Leder, die mit Lederriemen zusammengebunden waren.

 

 

Die Fahrt nach Schloß Kaltenberg war kurzweilig. Es gab viel über Burgfeste und das Mittelalter zu erzählen, denn Patricks Vater interessierte sich ebenfalls dafür. Als sie beim Schloß angekommen waren, sagte Patricks Vater, dass sie ihn anrufen sollten, wenn er sie abholen kommen sollte. Dann fragte er, ob Patrick an sein Handy gedachte hatte. Patrick deutete auf seine Ledertasche. Dann hielt Patricks Vater seinem Sohn einen Geldschein vor die Nase und sagte: »Hier, ist für den Eintritt und für den Rest könnt ihr euch ja etwas zu Essen und Trinken kaufen.«

»Wow, einen Fünfziger«, staunte Patrick.

»Dankeschön, aber wir haben schon Karten für die Ritterspiele«, sagte Kathrin.

Patrick blickte Kathrin verstört an, dann griff er sich schnell den Fünfziger und stellte fest, dass es zwei Scheine waren.

»Sie ist manchmal etwas zu ehrlich«, sagte Patrick und zwinkerte Kathrin zu. »Vielen Danke, Paps«, grinste Patrick breit.

Patricks Vater zog die Augenbrauen hoch.

»Willst du das Geld wiederhaben?«, fragte Patrick und wollte die beiden Geldscheine seinem Vater zurückgeben.

»Nein«, schüttelte er den Kopf. »Geht und vergnügt euch damit.«

»Danke«, sagte Patrick.

»Vielen Dank«, nickte Kathrin ihm zu.

»Entschuldigung für das Paps«, sagte Patrick noch, bevor sie den Wagen verließen.

Anscheinend mochte Patricks Vater es nicht, wenn er Paps genannt wurde.

»Dein Vater ist aber großzügig«, stellte Kathrin fest.

»Ja, da hat er ganz schön was springen lassen«, nickte Patrick. »Soviel Geld hat Paps mir noch nie gegeben«, ergänzte er noch. »Dann ist das Fest heute ja gerettet«, freute er sich riesig.

Es war bereits einiges auf dem Gelände los, obwohl die Kassen erst vor zwanzig Minuten geöffnet hatten. In einigen Schlossräumen gab es heute auch eine Sonderausstellung, die sich Kathrin und Patrick später anschauen wollten.

Zuerst aber schlenderten sie an zahlreichen Ständen vorbei. Natürlich war Patrick an Schwertern und Dolchen sehr interessiert. Kathrins Augenmerk galt Schmuck, Medaillons und außergewöhnlichen Wanderstöcken. Und natürlich warf Kathrin einen Blick auf besonders schöne Bögen und Köcher. Leider hatte sie für einen eigenen Bogen nicht das nötige Kleingeld.

Kathrin und Patrick blieben an einem Verkaufsstand stehen. Kathrin interessierte sich für einen runden Anhänger mit einem türkisblauen Stein in der Mitte und war so darauf fixiert, dass sie den Standbesitzer gar nicht beachtet hatte.

»Das ist aber eine Überraschung. Hallo, Kathrin«, sprach eine wohlbekannte Stimme sie an.

Kathrin hob den Blick und sagte freudig: »Hallo, Argon.«

»Interessierst du dich für den Anhänger?«

»Ja, er ist schön.«

»Das ist Argon«, stellte Kathrin den älteren Mann Patrick vor. »Ich habe dir doch von ihm erzählt.«

»Ja«, bestätigte Patrick mit einem Nicken.

»Sie verkaufen nicht nur Bücher?«, fragte Kathrin neugierig.

»Nein, hiermit verdiene ich mein Geld«, erklärte Argon freundlich.

»Ist Frau Dorfner wieder zurück?«, wollte Kathrin wissen.

»Nein«, schüttelte Argon den Kopf. »Sie kommt erst in einer Woche wieder. Bis dahin vertrete ich sie noch im Buchladen.«

»Wow! Schau mal hier, Kathrin!« Patrick deutete begeistert auf Dolche in Lederscheiden.

»Dann seht euch mal in Ruhe die Sachen an«, sagte Argon und wandte sich einem Kunden zu, der sich für Ledergürtel interessierte.

Kathrin war sehr interessiert an mittelalterlichem Schmuck, an den verschiedenen Räucherstäbchen und an den Wanderstöcken, während Patrick nur Augen für die Dolche hatte.

»Es sind schöne Sachen, nicht wahr?«, kam Argon zurück.

»Ja«, nickte Kathrin. »Aber ich denke, wir sollten gehen.«

»Warum denn?«, stutzte Patrick.

»Hm. Sonst sind wir gleich unser ganzes Geld los, noch bevor wir richtig auf dem Fest waren«, erwiderte Kathrin. »Der Tag ist noch lang.«

»Ach, wenn schon«, winkte Patrick ab.

»Ich habe hier noch ein paar ganz tolle Dinge für euch.« Argon bückte sich schwerfällig und holte unter dem Stand folgende Dinge hervor: Zwei Dolche, auf deren zweischneidigen Klingen symbolische Schriftzeichen eingraviert waren. Dann zeigte er den beiden zwei außergewöhnliche Wanderstöcke. Weiterhin präsentierte Argon zwei kleine Lederbeutel, in denen sich je vier Fläschchen befanden, die angeblich mit Zaubertränken gefüllt waren.

»Cool«, brachte Patrick hervor und griff nach einem Dolch. Dann nahm er die Wanderstöcke ins Visier. »So ein Wanderstock wäre doch etwas für dich, Kathrin«, stellte Patrick fest.

»Es ist deine Schuld, wenn wir gleich Pleite sind, Patrick«, zischte Kathrin.

»Okay«, sagte Patrick gelassen. »Dann sind wir halt Pleite und haben dafür schöne neue Sachen.«

Argon lächelte liebevoll und sagte ruhig: »So schlimm wird es bei mir schon nicht enden, Kathrin. Schaut euch in Ruhe die Sachen an und sagt mir, was ihr haben möchtet.«

Kathrin verzog leicht die Mundwinkel. Argon war gewiss sehr geschäftstüchtig. Er hatte Patrick schon um den kleinen Finger gewickelt.

»Mein Vater hat uns doch Geld gegeben, Kathrin, davon können wir uns etwas kaufen.«

»Ja, er hat dir Geld für den Eintritt und das Essen gegeben.« Kathrin sah Patrick streng an.

»Wir haben aber die Karten schon gehabt«, konterte Patrick und zuckte mit den Schultern.

»Also, Patrick, du solltest lieber mal ...«, schimpfte Kathrin, und Argon unterbrach sie sanft: »Schaut euch die beiden Wanderstöcke genauer an. Sind sie nicht wunderschön?«

Ein Wanderstock besaß einen geschnitzten Drachen als Knauf und der andere einen Bären. Argon erzählte, dass diese Wanderstöcke aus Buchenholz waren und eine geschmiedete Metallspitze besaßen.

»Die sind zu teuer«, bemerkte Kathrin.

»Aber ich habe euch doch noch gar keinen Preis genannt«, stutzte Argon.

Kathrin deutete auf die Wanderstöcke am Stand, und da diese schon vierzig Euro kosteten, vermutete sie, dass diese hier noch viel teurer waren.

»Aber, Kathrin«, sagte Argon sanft. »Hältst du mich etwa für einen skrupellosen Geschäftsmann?«

Kathrin senkte den Blick.

»Ich finde auch, dass du Argon Unrecht tust und wir uns sein Angebot mal anhören sollten«, nickte Patrick.

»Ja, okay«, sprach Kathrin mit zaghafter Stimme. »Ich wollte nur nicht, dass du die Sachen hier für mich bezahlst, Patrick. Also, ich kann mir die Sachen hier nicht leisten. Ich kaufe mir Räucherstäbchen.«

»Es ist doch so ein wundervoller Tag, nicht wahr, ihr beiden?«, fing Argon mit sanfter Stimme an, »und an so einem schönen Tag sollte man sich nicht über Geld streiten. Ich wollte euch die Sachen sowieso nicht verkaufen ...«

Kathrin blickte auf und horchte. Sie sah, wie Patrick zusammenzuckte.

»... also, ich wollte euch einen Vorschlag machen. Ich gebe euch die Dolche, die Wanderstöcke und jeweils vier Zaubertränke. Dafür helft ihr mir am Mittwochnachmittag im Buchladen aus.«

»Wow, super, das ist abgemacht«, kam es spontan aus Patrick heraus.

»Das können wir nicht annehmen«, sagte Kathrin. »Das ist ... viel zu viel ... für einen Nachmittag.«

»Ähm, Kathrin ...«, fing Patrick an, doch als sie ihn ansah, schwieg er rasch.

»Aber nein, das geht in Ordnung«, nickte Argon. »Ich muss eine große Lieferung ausfahren. Das bringt dem Buchladen viel Geld ein. Seht die Sachen als eine Art Beteiligung an diesem Geschäft an.«

»Das ist doch ein faires Angebot von Argon«, sagte Patrick. »Komm schon, Kathrin, sag ja«, flehte Patrick.

Kathrin zögerte noch, dann sagte sie: »Okay! Vielen, vielen Dank für das Angebot, Argon.«

Argon lächelte zufrieden. Er überreichte Kathrin und Patrick je einen Dolch in Lederscheide und einen kleinen Lederbeutel, in dem sich vier Fläschchen mit Zaubertränken befanden. Kathrin bekam den Wanderstock mit dem Drachenknauf und Patrick den mit dem Bärenknauf.

Kathrin hielt den Wanderstock in der Hand und war glücklich. Dann betrachtete sie sich den Dolch und die symbolischen Zeichen und wollte von Argon wissen, was diese Zeichen zu bedeuten hatten. Argon flüsterte geheimnisvoll, dass es sehr alte, elbische Schriftzeichen wären. Kathrin lächelte leicht und ließ Argons Antwort gelten, weil sie schließlich auf einem Mittelalterfest waren. Dann wollte Kathrin wissen, was es mit den Zaubertränken auf sich hatte. Argon lächelte wissend und erklärte den beiden, dass diese Zaubertränke später einmal von Bedeutung sein würden. Kathrin fing an zu lachen, doch als Argon sie mit einem ernsten Blick strafte, verstummte ihr Lachen. Dann wollte Argon von Kathrin wissen, wie ihr der Wanderstock gefiel, und Kathrin wie auch Patrick sprachen ihre Begeisterung aus. Argon sagte, dass man sie auch gut als Waffe einsetzen konnte. Kathrin lächelte glücklich, als sie den kleinen Beutel mit Zaubertränken in ihre Gürteltasche steckte und die Lederscheide mit dem Dolch links an ihrem langen Ledergürtel befestigte. Dann griff sie nach dem Wanderstock.

»Kathrin«, sprach Argon sie an, »dieses Lächeln steht dir gut. Und jetzt will ich auch nichts mehr über Geld hören. Geht und amüsiert euch hier auf dem Fest.«

»Ja«, nickte Kathrin zufrieden. »Ich war wohl ein wenig zu ...«

»... bescheiden«, beendete Argon den Satz.

Kathrins Herz klopfte schnell, als sie sich nochmal den Drachenknauf betrachtete. Die Drachenfigur war perfekt geschnitzt. Die Maserung des Holzes war wundervoll.

»Gefällt er dir«, sprach Argon Kathrin an, die den Kopf hob und sofort sagte: »Ja, er ist wunderschön. Danke nochmals, Argon.«

Argon winkte ab und schmunzelte: »Na ja, Kathrin, die Sachen sind ja nicht umsonst. Ihr tut mir ja auch einen Gefallen.«

»Ja, aber ...«, fing Kathrin an, und Argon unterbrach sie höflich: »Oh, da fällt mir ein, im Schloss gibt es eine Sonderausstellung ... Ja, genau, die müsst ihr euch unbedingt ansehen.«

»Wollten wir gleich tun«, nickte Patrick.

»Wir müssen uns noch die Karten dafür besorgen.« Kathrin wandte sich Patrick zu. »Oder hast du schon welche?«

Patrick schüttelte den Kopf.

»Wo hab ich sie denn?«, grübelte Argon und wühlte in den Hosentaschen herum. »Nein! Hier sind sie nicht. Ach ja, hier hab ich sie hineingetan«, nickte er wissend und griff in eine quadratische Metalldose, die ihm auch gleichzeitig als Kasse diente.

»Hier, für euch«, sagte Argon und hielt Patrick zwei Eintrittskarten für die Sonderausstellung entgegen.

Patrick machte große Augen, und sein Blick verriet Kathrin, dass er gleich die Eintrittskarten annehmen würde, deswegen ergriff Kathrin das Wort: »Das können wir nicht auch noch annehmen, Argon.«

Argon erzählte, dass die Sonderausstellung in den Schlossräumen stattfand, in denen man sonst keinen Zutritt hatte. Argon erzählte mit Begeisterung, dass dort wundervolle Gemälde zu sehen waren. Als er auf die ausgestellten Schwerter zu sprechen kam, wandte er sich Patrick zu, der vor Begeisterung leise jubelte. Und als Argon von wundervollen Bögen sprach, hatte er sich Kathrin zugewandt, die nun ihre Ohren weit aufsperrte. Nun sprach Argon über die Ausstellung im Gewölbekeller, in dem mittelalterliche Foltergeräte ausgestellt waren.

»Das wollt ihr euch doch nicht entgehen lassen?«, fragte Argon an Kathrin gewandt. »Außerdem habe ich die Eintrittskarten umsonst erhalten, also, hier nehmt sie«, meinte Argon.

»Vielen Dank«, sagte Patrick und nahm die Eintrittskarten an.

»Dankeschön«, lächelte Kathrin fröhlich.

»Vielleicht kommen wir nachher nochmal bei Ihnen vorbei«, sagte Patrick, und sie verabschiedeten sich von Argon.

 

 

 

 

Auf die Folter spannen

Kathrin und Patrick schlenderten an allerlei Ständen vorbei, bis sie vor einem Stand stehenblieben, bei dem es große Fleischspieße zu kaufen gab.

»Magst du einen Spieß?«, fragte Patrick freudestrahlend.

»Gerne«, nickte Kathrin. »Die sehen wirklich lecker aus.«

Kathrin und Patrick reihten sich in die Warteschlage ein. Nach etwa zehn Minuten waren sie an der Reihe und fanden direkt einen freien Platz an einem Biertisch, wo sie die leckeren Fleischspieße in Ruhe genießen konnten.

»Jetzt habe ich Durst«, sagte Patrick, als er aufgegessen hatte.

»Ich auch«, nickte Kathrin.

»Was möchtest du trinken?«, fragte Patrick.

»Ein Radler«, sagte Kathrin.

»Nehme ich auch«, sagte Patrick und besorgte zwei Krüge.

Sie saßen noch eine ganze Weile am Biertisch und unterhielten sich über das letzte Burgfest. Als sie die Krüge geleert hatten, zückte Patrick freudig die Eintrittskarten von Argon, und sie beschlossen, zur Ausstellung zu gehen.

Kathrin konnte es kaum glauben, denn am Eingang zur Ausstellung war kaum etwas los. Nur vier Personen waren vor ihnen. Als sie den ersten Schlossraum betreten hatten, zeigte sich, dass sie gerade einen guten Moment am Eingang abgepasst hatten, denn hier zählte Kathrin zwanzig Besucher. In diesem Schlossraum war eine Gemäldeausstellung, auf denen Portraits, Schlachten und Landschaften zu sehen waren. Die Gemälde waren zwar interessant, bei dem einen oder anderen ließen sie sich etwas länger Zeit, aber letztendlich hatten sie sich die Gemälde rasch angesehen.

Im nächsten Schlossraum hielten sie sich eine längere Zeit auf, denn hier präsentierten sich ihnen mittelalterliche Waffen wie Lanzen, Streitäxte, Dolche und Schwerter.

Kathrin bemerkte, wie Patrick mit angehaltenem Atem ein Schwert mit kurzer und leicht nach vorn gebogener Parierstange ins Visier genommen hatte. Das Schwert hatte eine zweischneidige und gerade Klinge mit Hohlkehle und einen breiten Knauf mit drei Wülsten.

»Schönes Stück«, sagte Kathrin.

»Ja«, bestätigte Patrick.

»Wäre das ein Schwert für dich?«, fragte Kathrin.

»Nein«, antwortete Patrick.

Patrick wandte sich einem Einhandschwert mit rundem Knauf zu, das eine Gesamtlänge von einem Meter hatte. Der Griff war mit schwarzem Leder umwickelt.

Eine besondere Aufmerksamkeit schenkte Patrick einem besonderen Einhandschwert mit Ringkanal und flügelähnlicher Parierstange. Sein Blick wanderte zum Griff, der mit braunem Leder umwickelt war.

»Ist vermutlich ein irisches Einhandschwert«, sagte Patrick.

»Kennst dich aber gut mit Schwertern aus.«

»Ein wenig«, nickte Patrick. »So ein Schwert wäre genau das Richtige für mich«, stellte Patrick fest.

»Ich finde es sehr schön«, nickte Kathrin. »Es würde gut zu dir und deinem Gewand passen.«

»Findest du?«

»Ja.«

Als sie den nächsten Raum betraten, bewunderte Kathrin zuerst die Stuckdecke und dann rechts von ihr die Wandmalerei, auf der eine Jagdszene im Wald dargestellt war. Als sie die Ausstellungsstücke im hinteren Teil des Raums entdeckte, schlug ihr das Herz bis zum Hals – Bögen. Kathrin legte einen Schritt zu, während Patrick ihr schnell folgte und sagte: »Da ist ja auch etwas für dich.«

»Ja«, hauchte Kathrin.

Zur Ausstellung gehörten Reiter- und Langbögen. Ein besonderes Augenmerk richtete Kathrin auf einen Reiterbogen, bei dem das Mittelteil aus Ahorn und die Wurfarme aus Ulme bestanden.

»So einen Bogen würde ich gerne ...«, sagte Kathrin und wollte den Bogen gerade berühren, als hinter ihnen eine befehlerisch weibliche Stimme sie dazu ermahnte, nichts anzufassen.

»Oh, entschuldigen Sie«, wandte sich Kathrin der Wächterin zu.

»Ist ein schönes Stück«, sagte die Wächterin.

»Ja«, nickte Kathrin. »Wundervoll«, schwärmte sie.

»Na ja, wenn du vorsichtig bist, darfst du diesen Bogen mal halten«, schlug die Wächterin vor.

Kathrin starrte sie überrascht an. »Also ... ähm ... wirklich?«

»Ja«, nickte die Wächterin, ging zum Bogen und nahm ihn von der Wand.

Als Kathrin den Bogen in der Hand hielt, versank die Welt um sie herum im dichten Nebel. Als sie eine Stimme hörte – Kathrin wusste gar nicht, wieviel Zeit inzwischen vergangen war – , blickte sie auf und wurde aus ihrer Traumwelt herausgerissen.

»Wie gefällte er dir?«, fragte die Wächterin.

»Er ist wundervoll ... liegt gut in der Hand«, sagte Kathrin und gab den Bogen zurück.

Kathrin und Patrick machten sich auf den Weg zum Gewölbekeller, um sich die Foltergeräte anzusehen.

»Das war aber nett von ihr«, wunderte sich Patrick.

»Ja, das war es.«

Als Kathrin den Gewölbekeller betreten hatte, wünschte sie sich, dass sie es lieber nicht getan hätte. Diese Ausstellung ging ihr ziemlich an die Nieren.

»Gruselig hier«, würgte Kathrin hervor.

»Wow, da«, sagte Patrick, »Daumenschrauben.«

»Echt super, Patrick. Willst du sie ausprobieren?«, leierte Kathrin herunter und zog die Augenbrauen hoch. »Soll ich dir das Schild dazu vorlesen?«

»Hä ... was hast du denn ...«, stammelte Patrick hervor.

Kathrin las den Text auf dem Schild vor: »Bei diesem Folterinstrument werden der Daumen oder auch andere Finger in die Zwinge gespannt und die durch das Gewinde miteinander verbundenen Backen ...«

»Also, was ist los, Kathrin?«, unterbrach Patrick sie und sah verwundert aus. »Also, wenn du keine Lust hierzu hast, können wir gehen.«

Kathrin atmete durch und sagte: »Entschuldigung, Patrick, ich wollte nicht ... Ich finde die ganzen Sachen hier grausam.«

»Dann gehen wir«, entschied sich Patrick.

»Nein«, schüttelte Kathrin den Kopf.

»Doch.«

»Ist schon gut, Patrick. Wirklich.«

»Okay«, sagte Patrick einverstanden. »Dann mal zum gespickten Hasen hier«, lächelte er breit.

Als Kathrin den gespickten Hasen sah, der auch als Stachelrolle bekannt war, war sie entsetzt von den mittelalterlichen Foltermethoden. Der gespickte Hase bestand aus einer mit Spitzen besetzten Rolle und wurde einzeln als Foltergerät oder auch als Zusatz bei Streckbänken und Streckleitern eingesetzt. Es gab noch eine ganze Reihe von grausamen Foltergeräten wie die Mundbirne, die soweit aufgespannt werden konnte, dass Zähne oder Kiefer brachen.

»Hier ist es gruselig«, schüttelte sich Kathrin und versuchte dabei ruhig zu bleiben, während Patrick ihr völlig zustimmte.

»Sieh mal dort drüben«, sagte Patrick und deutete auf fünf Schautafeln, auf denen die Hexenverfolgung dargestellt wurde.

Kathrin fiel auf, wie sie vor Wut die Fäuste ballte, und dann sagte sie: »Was für eine Ungerechtigkeit.«

»Ja, schöne Scheiße«, kam es spontan aus Patrick heraus. »Hätten wir zu dieser Zeit gelebt, dann hätten wir den Hexen mit Schwert und Bogen beigestanden.«

Kathrin seufzte, als sie vor die nächste Schautafel trat, auf der eine Hexenverbrennung gezeigt wurde. »Grausam, am lebendigen Leibe zu verbrennen.«

»Ja«, nickte Patrick ihr zu, »und die Kirche hatte damals viel dazu beigetragen.«

»Ich hätte allen Verfolgten ein unbewohntes Land gegönnt, wo sie alle zusammen in Frieden hätten leben können«, sagte Kathrin.

»Das hätte ich auch«, nickte Patrick.

Sie schauten sich noch das Pfahlhängen und das Rädern an. Beim Rädern wurden solange die Knochen gebrochen, bis der Verurteilte mit den Gliedern durch das Rad geflochten werden konnte. Weiter wollte Kathrin die Tafel nicht lesen. Sie wollte den Horrorkeller verlassen, und es schien ihr, dass Patrick nichts dagegen hatte, denn er gab keine Widerworte, sondern freute sich, als Kathrin sagte, dass sie sich gleich Kleider ansehen wollte – das tat er sonst nur selten.

Im nächsten Schlossraum gab es eine Bilder- und Fotoausstellung, welche die Geschichte von Schloß Kaltenberg und der Umgebung zeigte. Hier kamen sie wieder auf angenehmere Gedanken.

 

 

 

 

Glotz nicht so dämlich!

Im letzten Ausstellungsraum präsentierten sich ihnen fantasiereiche, gemalte Landschaftsbilder und Portraits. Kathrin war schweigsam geworden, ihr machten die Folterinstrumente und die schrecklichen Foltermethoden, die im Mittelalter Anwendung fanden, immer noch schwer zu schaffen. Patrick murmelte etwas von Argon und Ähnlichkeit, aber Kathrin hatte im Augenblick für Patrick kein offenes Ohr.

»Die Ausstellung im Keller will mir einfach nicht aus dem Kopf gehen«, gab Kathrin zu.

»So war das nun mal früher. Heute ist auch nicht alles so gut ...«, erwiderte Patrick.

»Ja, aber trotzdem, Patrick, es gab diese Zeit und sie war grausam.«

»Nicht alles wird zu dieser Zeit grausam gewesen sein.«

Kathrin hielt Blickkontakt zu Patrick.

»Ja, ich weiß«, murmelte sie, »aber trotzdem macht mich das traurig.«

»Kann ich verstehen«, pflichtete Patrick ihr bei.

Kathrin zögerte, bevor sie sagte: »Dieser Mann auf dem Bild hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Argon.«

»Ja, das habe ich dir eben auch schon gesagt«, erwiderte Patrick. »Hast mir aber nicht zugehört.«

»Entschuldigung, Patrick.«

»Na ja, ist halb so wild«, winkte er ab.

Sie betrachteten sich mit großem Interesse das Bild, auf dem ein Laubwald und eine Lichtung zu sehen waren. Auf der Lichtung stand Argon mit grauem Gewand, neben ihm war ein großer Wolf zu sehen. Kathrin zitterte leicht, denn bei diesem Anblick fiel ihr der Albtraum wieder ein, in dem ein silberhaariger Elb, ein älterer Mann und eine wolfsähnliche Kreatur vorkamen. Kathrin suchte nach Informationen zu dem Bild, aber ausgerechnet zu diesem Bild gab es keine Beschreibung. Der ältere Mann auf dem Bild sah so aus, als könnte er ein Vorfahre von dem heutigen Argon sein. Ob das möglich war?

»Wir können ja gleich bei Argon vorbeigehen und ihn nach diesem Bild fragen«, schlug Patrick vor.

»Gute Idee«, sagte Kathrin, »das machen wir.«

»Komm, lass uns gehen!« Patrick stupste Kathrin leicht an. Sie nickte einverstanden.

»Was ist ... was ...«, stammelte Patrick.

»Was hast du?«, wollte Kathrin sofort wissen.

»Ich könnte schwören, der Typ auf dem Bild hat die Augen bewegt« Patrick deutete auf Argon. »Ich schwöre, Kathrin, dass ich die Wahrheit sage!«, sagte er ernst, als Kathrin ihn verwundert anblickte. »Wirklich, Kathrin, ich lüge nicht.«

Kathrin trat dicht an das Gemälde heran, konnte aber nichts Ungewöhnliches erkennen.

»Vielleicht eine optische Täuschung«, vermutete Kathrin. Auch als Patrick dicht ans Gemälde herantrat und es musterte, veränderte sich nichts.Argon blickte weiterhin starr geradeaus.

»Hm ...«, überlegte Patrick.

»Komm, wir gehen, Patrick!«

»Okay.«

Sie verließen die Ausstellung und machten sich auf den Weg zu Argons Stand. Es näherten sich drei mittelalterlich gekleidete Schwertkämpfer, die eine Darbietung ihres Könnens im Umgang mit den Schwertern geben wollten. Einer der Schwertkämpfer kündigte den Kampf an, und Patrick blieb sofort stehen. Sie bekamen einen Platz in der ersten Reihe. Die Kämpfer trugen verschiedene Wappen auf Brust und Rücken. Ein Kämpfer hatte ein gelbes, ein anderer ein grünes und ein weiterer ein blaues Wappen. Der Kämpfer mit dem gelben Wappen stellte die anderen und sich dem Publikum vor. Am Anfang der Show wurde viel gebrüllt – na ja, wie üblich bei solchen Vorstellungen, bevor die Keilerei losging – dann griff der Kämpfer mit dem grünen Wappen den mit dem blauen Wappen an.

Respekt! Die Sonne brannte vom Himmel herab, trotzdem gaben die beiden Kämpfer ihr Bestes für die Show. Kathrin sah, wie Patrick den Kampf mit Begeisterung verfolgte. Sie wollte ihm diese Freude nicht nehmen, Argon konnten sie ja auch etwas später aufsuchen.

Kathrin war mit ihren Gedanken irgendwo anders. »Du andersartiger Abschaum«, hörte Kathrin eine laute Stimme und sie erschrak. Sie wandte sich um, doch niemand im Publikum schien etwas zu ihr gesagt zuhaben. »Ein rascher Tod soll dir nicht beschert werden, Abschaum. Auf das Rad sollten sie dich flechten!« Kathrin zuckte zusammen. Wer hatte das gesagt? Als sie sich umsah, schien es niemand aus dem Publikum gewesen zu sein. Hatte ihr die Ausstellung im Gewölbekeller etwa so zugesetzt, dass sie jetzt eine Stimme hörte, die vielleicht von ihrem Unterbewusstsein hervorgerufen wurde? »Bald, schon sehr bald, werden wir mit dir und deinesgleichen ein für allemal aufräumen.« Kathrin zuckte wieder zusammen, doch dann blickte sie dem Sprecher direkt in die Augen. Sie war wohl zu sehr in ihren Gedanken vertieft gewesen, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, dass der Kämpfer mit dem blauen Wappen der Sprecher gewesen war. Nun stellte Kathrin fest, dass der Kämpfer mit dem grünen Wappen, eine Maske trug, die einen Elben darstellen sollte. Dieser Kämpfer sollte wohl der andersartige Abschaum sein. Kathrin fröstelte es wieder, denn sie musste unwillkürlich an ihren Albtraum denken, sowie an das Bild in der Ausstellung, auf dem Argon und ein Wolf zu sehen waren.

»Halt! Das genügt«, gebot eine befehlsbetonte Stimme, die dem Kämpfer mit dem gelben Wappen gehörte. Nun mischte auch er sich in den Kampf ein, doch anstatt gegen den Elben zu kämpfen, schwang der Mensch das Schwert gegen den Kämpfer mit dem blauen Wappen. Gemeinsam drängten die beiden den Kämpfer mit dem blauen Wappen, der einen König darstellte, zurück.

Das Publikum lachte, als der König den Kämpfern Einhalt gebot, den Kampf zu unterbrechen, damit er seine goldene Krone zurechtrücken konnte, die ihm sonst vom Kopf gefallen wäre.

Der Kampf wurde fortgesetzt.

»Toller Kampf«, schwärmte Patrick, als der König von den beiden anderen Kämpfern schließlich besiegt wurde.

»Ja, ich muss zugeben, der Kampf hat mich sehr beeindruckt«, bestätigte Kathrin.

»Die haben ziemlich aufeinander eingedroschen«, sagte Patrick. »Wenn da mal ein Hieb nicht gesessen hätte, wäre es nicht gut ausgegangen.«

»Ja«, sagte Kathrin.

Nachdem die drei Kämpfer einen tosenden Applaus erhalten hatten, löste sich das Publikum um sie herum langsam auf.

Kathrin und Patrick hatten gerade einmal zwanzig Meter zurückgelegt, da wurde auf einer Bühne eine Feuertänzerin angekündigt, die schon einen kleinen Vorgeschmack auf das Abendprogramm geben wollte. Das Publikum strömte dorthin, wie auch Kathrin und Patrick, die dieses Mal einen Platz in der vierten Reihe bekamen.

»Sollen wir uns die Feuertänzerin jetzt ansehen?«, fragte Patrick vorsichtig. »Heute Abend wird zwar die komplette Feuershow aufgeführt, aber wer weiß, was wir dann machen«, ergänzte er.

Kathrin nickte Patrick einverstanden zu, während eine leicht bekleidete Tänzerin die Bühne betrat und mit ihrer Darbietung begann. Sie schwang einen brennenden Kelch in die Höhe, der einen Feuerschweif hinter sich herzog. Mittelalterliche Musik erklang aus den Lautsprechern. Nach dieser Einführung stellte sie den Kelch neben sich ab und wirbelte eine brennende Peitsche durch die Luft. Applaus war ihr mit dieser Nummer sicher.

»Wow, ist ja echt super«, schwärmte Patrick.

»Ja, sie ist wirklich gut.«

»Boah. Cool.« Patrick war begeistert, als die Tänzerin mit vier Messern jonglierte, bei denen die Klingen in Flammen standen. »Sieht bestimmt super aus, wenn es dunkel ist«, bemerkte Patrick.

»Jaja«, murmelte Kathrin nur und warf Patrick gleichzeitig einen flüchtigen Blick zu. »Die Musik ist auch sehr gut«, stellte Kathrin fest.

»Aha, ja ...«, brachte Patrick hervor. Die Tänzerin bewegte sich weiter im Rhythmus mittelalterlicher Musik, während sie mit den vier Messern jonglierte.

»Bin mal gespannt, was Argon uns gleich über das Bild zu erzählen hat«, sagte Kathrin, aber Patrick hörte ihr nicht zu, das machte Kathrin ein wenig wütend.

Die gutaussehende Tänzerin hatte Patricks volle Aufmerksamkeit erhalten.

»Und, Patrick, gefällt dir die Nummer?«, fragte Kathrin barsch.

»Ah, ja ... natürlich«, brachte Patrick hervor, ohne den Blick von der Tänzerin zu nehmen.

»Sie ist gut«, sagte Kathrin.

»Ja.«

»Sie sieht super aus, nicht wahr, Patrick?«, bemerkte Kathrin. »Hm! Sie ist wohl dein Typ?«

»Ja ...« Patrick zuckte zusammen. »Ähm! Was?«, stotterte Patrick. »Nein, ist sie nicht ...«, sagte er ernst.

Kathrin lächelte, als Patrick bei ihr wieder einmal nicht die richtigen Worte fand, dann lachte sie herzlich.

»Wir können auch gehen«, schlug Patrick vor.

»Schon gut, Patrick. Sieh dir die Show in Ruhe an. Ich lass dich jetzt in Ruhe«, sagte Kathrin etwas freundlicher.

Nach der Show wollte Kathrin aber so schnell wie möglich Argon aufsuchen. Als sie endlich Argons Stand erreichten, war der Platz leer.

»Er hat das Fest schon verlassen?«, stutzte Patrick.

»Sieht so aus«, sagte Kathrin deprimiert.

»Ist doch noch nicht mal Abend«, schüttelte Patrick den Kopf.

»Schon seltsam«, erwiderte Kathrin.

Der Verkäufer des Nachbarstandes konnte ihnen nur sagen, dass Argon vor etwa einer Stunde seinen Stand abgebaut und alles eingepackt hatte und Hals über Kopf aufgebrochen war.

»Ob etwas Schlimmes passiert ist?« Kathrin machte sich Sorgen um Argon, dann dachte sie an Frau Dorfner und daran, ob ihr vielleicht etwas zugestoßen sein könnte.

Patrick wusste keine Antwort darauf und zuckte mit den Schultern.

Als Kathrin einen anderen Standbesitzer ausfragte, erfuhr sie, dass Argon einen Anruf erhalten hatte, bei dem es um eine große Buchlieferung ging, die heute noch auf den Weg gebracht werden sollte. Sie erfuhren außerdem, dass Argon am Montag im Buchladen sein würde. Kathrin war erleichtert, dann war mit Argon und Frau Dorfner wohl alles in Ordnung.

»Das ist natürlich blöd für ihn«, sagte Patrick. »Da entgeht ihm hier ein gutes Geschäft.«

»Wenigstens geht es ihm gut«, erwiderte Kathrin.

»Stimmt«, nickte Patrick.

»Wir können ihn ja am Montag nach der Schule im Buchladen besuchen gehen«, schlug Patrick vor.

»Gute Idee, Patrick«, war Kathrin einverstanden.

Sie schlenderten weiter über den mittelalterlichen Markt, und plötzlich sprang Patrick vor Kathrin und fragte mit lauter Stimme: »Wie geht es dir?«

»Gut«, antwortete Kathrin und sah ihn erstaunt an. »Warum?«, fragte sie vorsichtig.

»Gestern dachte ich, dass es dich übel erwischt hatte«, erklärte Patrick mit fester Stimme.

»Ach so«, lächelte Kathrin ihn an und sagte mit fester und lauter Stimme: »Du meinst den Kampf?«

»Ja, genau«, nickte Patrick.

»War nur ein Kratzer«, sagte Kathrin.

»Nur ein Kratzer?«, fragte Patrick laut. »Du hast mehr, als nur einen Kratzer abbekommen, es war ein tiefer Schnitt.«

Wie bei jedem Fest schafften es Kathrin und Patrick auch ein kleines Publikum auf sich aufmerksam zu machen. Kathrin freute es immer wieder, wenn sie mit Patrick ein kleines Stück aufführte, denn unter dem Publikum waren viele Kinder, die ihnen zujubelten, und das fand Kathrin gut.

Patrick war ein wunderbarer Erzähler, der mit gekonnter Stimme von sich gab, dass die Tore der weißen Stadt weit offen standen und es einen regen Verkehr an Pferdekarren, Fußvolk und Reitern gab. Doch das war nicht alles, denn die Wachen schlugen Alarm, als sich eine Bande von Wegelagerern den Toren der Stadt näherten. Hier konnte nur eine berühmte Bogenschützin und ein Schwertkämpfer die Bande aufhalten, und diese Helden waren Kathrin und Patrick. Kathrin schoß mit ihren imaginären Bogen auf die Feinde, während Patrick mit seinem imaginären Schwert der Bande entgegentrat.

Die Kinder waren begeistert.

»Bravo! Bravo, Tristan und Isolde«, hörte Kathrin ein fieses Klatschen und eine wohlbekannte Stimme, bei dem sie hätte das Kotzen kriegen können.

Mit scharfem Blick wandte sie sich, wie auch Patrick, der Stimme zu. Und da standen sie vor ihnen, die Unausstehlichen: Rolf Eschbach und Juliane Bauer in Kostüm.

Die gute Stimmung bei Kathrin und Patrick war verflogen, doch die Kinder sahen gespannt zu.

»Schöne Kostüme«, sagte Rolf naserümpfend.

»Ja, du siehst ganz gut aus, Kathrin«, sagte Juliane, doch Kathrin wusste, dass sie das Gegenteil meinte.

»Was man von euch nicht sagen kann«, brummte Patrick. »Wo habt ihr denn eure Gewandungen her?«

Kathrin sah Patrick an, dass er kurz davor war, die Nerven zu verlieren, und ergriff das Wort: »Der fiese König und sein Weib«, sagte Kathrin und deutete auf Rolf und Juliane, und noch immer verfolgten die Kinder gespannt die Szene. Kathrin vermutete, dass sie dachten, dass dies noch zu ihrer Darbietung gehört.

»Was hast du gesagt ... du ... du Außenseiterin«, fuhr Rolf sie an, dann trat Patrick dazwischen und schrie, während die gesamten Kinder Rolf und Juliane ausbuhten: »Ihr, der König und du, die Königin ...« Patrick deutete zuerst auf Juliane und dann auf Rolf, die Kinder lachten. »Oh, sorry! So herum, glaube ich«, sagte Patrick und deutete auf Rolf und dann auf Juliane.

»Idiot«, murmelte Rolf.

Kathrin wirbelte einmal herum und stand Juliane gegenüber: »Du bist eine gemeine Königin.« Kathrin spannte ihren imaginären Bogen und zielte auf Juliane, die sprachlos dastand.

»Also ich werde dir gleich eine ...«, fing Rolf an und trat Kathrin entgegen. Patrick sagte wütend: »Keine körperliche Gewalt vor den Kindern, du Fiesling! Zurück mit dir!«

Patrick schwang sein imaginäres Schwert, und die Kinder johlten ihm zu. Kathrin staunte, wie Patrick die Kinder auf seine Seite zog.

»Und wenn der ganze Schnee verbrennt, die Asche bleibt uns doch«, sagte Patrick.

»Hä?«, stutzte Rolf und machte ein dummes Gesicht.

»Wir lassen uns durch nichts entmutigen, wollte ich damit sagen. Wir kämpfen für die Elfen, die Elben, die Zwerge und auch für die Zauberer, denn wir ...« Patrick deutete auf Kathrin und dann auf sich. »... hassen Ungerechtigkeit.«

»Jaja«, sagte Rolf nur, doch Patrick setzte einen drauf: »Ich habe Kinder. Ja, viele, viele Kinder. Wie ihr hier sehen könnt.« Die Kinder grölten. »Ihr wollt doch auch nicht, dass den Elfen und allen anderen der außergewöhnlichen Art etwas zustößt?«, sprach Patrick die Kinder an.

»NEIN! NEIN!«, schrieen sie alle gleichzeitig.

Kathrin sah, dass Rolf blaß im Gesicht geworden war und Juliane sie immer noch sprachlos anblickte.

»So, Kinder, das ist euer Einsatz hier«, fing Patrick an. »Also, zeigt es dem bösen Königspaar«, ermutigte Patrick die Kinder, die daraufhin tobend auf Rolf und Juliane zuliefen.

»Sind das nicht liebe Kinderchen«, scherzte Kathrin und zwinkerte Juliane zu, und Rolf brüllte Kathrin an: »Warte ab! Ich mache dich ...« Rolf wandte sich von Kathrin ab, denn die ersten Kinder hatten ihn erreicht und wollten ihn spielerisch zu Boden ringen. »He, lasst das sein! Hört auf!« Die Kinder dachten nicht daran aufzuhören, sie hatten großen Spaß.

»Rolf, glotz nicht so dämlich!«, rief Kathrin noch, bevor Kathrin und Patrick Arm in Arm davongingen.

 

 

 

 

Argon will alles erklären,

aber dann ...

Am Montag nach der Schule gingen Kathrin und Patrick in den Uttinger Summerpark und ließen sich auf einer Bank nieder. Kathrin kam oft nach der Schule hierher, doch dieses Mal war sie nicht allein. Patrick war bei ihr und das tat ihr gut. Der Tag war sonnig und warm, und auf dem See war wieder viel los. Links von ihnen ertönte das Horn des Schaufelraddampfers.

»Also, ich weiß nicht ...«, fing Patrick an.

»Was hast du, Patrick?«, fragte Kathrin, als Patrick nicht weitersprach.

»Irgendetwas an Argon kommt mir merkwürdig vor«, sagte Patrick.

»Was denn?«, fragte Kathrin.

»Kann ich dir auch nicht erklären«, antwortete Patrick. »Es ist nur so ein Gefühl von mir. Er ist nett, freundlich, ja, aber er strahlt etwas geheimnisvolles aus.«

»Hm, ist mir auch schon aufgefallen.«

»Ach?«

Kathrin nickte.

»Es kommt mir so vor, als würde er aus einer anderen Zeit kommen«, sagte Kathrin.

»Ja, wer weiß das schon?«, lächelte Patrick, sagte dann aber mit ernster Stimme: »Er hat uns eigentlich noch gar nicht gesagt, woher er kommt.«

»Ja, stimmt«, sagte Kathrin. »Darauf werden wir ihn nachher ansprechen.«

Patrick nickte.

»Ich hätte gedacht, das Rolf uns heute aufmischen würde«, sagte Kathrin.

»Er war so schweigsam«, erwiderte Patrick.

»Tja, komisch, und auch Juliane hat kein Wort über den Vorfall bei den Ritterspielen verloren.« Kathrin grinste.

»Ich denke aber, dass wir uns auf Rache einstellen müssen«, war Patrick überzeugt.

»Denke ich auch.« Kathrin blickte Patrick tief in die Augen. »Du kannst gut mit Kindern umgehen«, sagte sie noch, als sie an ihre kleine Aufführung bei den Ritterspielen dachte.

»Du aber auch.«

»Es ist schön hier am See«, schwärmte Kathrin.

»Ja, aber wir sollten gehen.« Patrick blickte auf die Armbanduhr.

Kathrin rückte ein Stück näher an Patrick heran, der nichts dagegen hatte, denn kurz danach legte er den Arm um sie und schwärmte von dem wundervollen Wetter und wie schön es mit ihr hier am See war. Kathrin überlegte, ob sie Patrick küssen sollte. Patrick war schweigsam geworden, und Kathrin wollte ihm sagen, wie sehr sie ihn mochte, und dann wollte sie ihn küssen, doch da ertönte wieder das Horn des Schaufelraddampfers, der vom Steg ablegte. Kathrin zuckte zusammen.

»Dann mal auf in den Buchladen ...«, sagte Kathrin und stand auf. »In die Höhle des Löwen«, scherzte Patrick, und Kathrin lachte.

 

 

Als Kathrin vor der Tür des Buchladens stand, rührte sie sich sekundenlang nicht von der Stelle. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie gleich Argon gegenüberstehen und ausfragen würden.

»Los, Kathrin! Mach die Tür auf und dann hinein«, spornte Patrick sie an.

Was wäre, wenn sie irgendetwas über Argon erfahren würde, dass ihr missfallen würde? Was wäre, wenn ...

Kathrin hatte genug von dem was wäre, wenn. Sie öffnete schwungvoll die Tür und betrat mit Patrick ihren Lieblingsbuchladen.

»Frau Dorfner?« Kathrin verharrte und wusste nicht, was sie weiter sagen sollte. Patrick stand schweigsam an Kathrins rechter Seite.

»Ah, Kathrin, schön dich zu sehen«, empfing Frau Hildegard Dorfner sie freundlich. »Du hast heute deinen Freund mitgebracht?«, sagte sie noch und warf Patrick einen prüfenden Blick zu.

»Ähm, ja, also ... das ist ...«, stotterte Kathrin leicht, »das ist Patrick«, stellte sie ihn vor.

»Hallo, Patrick«, sagte Frau Dorfner freundlich.

»Eigentlich wollten wir zu Argon«, sagte Kathrin.

»Wer ist Argon?«, fragte Frau Dorfner.

»Ihre Vertretung, natürlich«, stutzte Kathrin.

Patrick stand immer noch schweigsam an Kathrins Seite.

»Meine Vertretung?«, fragte Frau Dorfner irritiert. »Ich habe mir mal etwas Urlaub gegönnt und den Laden geschlossen«, erzählte sie.

»Aber Argon hat sie doch hier im Laden vertreten«, sagte Patrick. Frau Dorfner wandte sich ihm zu. »Wir haben Argon am Wochenende gesehen und uns über den Buchladen unterhalten.«

»Das ist sehr merkwürdig«, stutzte Frau Dorfner. »Ich kenne diesen Mann wirklich nicht. Ich bereite uns eine Kanne Tee zu, dabei könnt ihr mir die ganze Geschichte erzählen.«

»Gerne«, nickte Kathrin.

»Möchtest du auch einen Tee oder lieber etwas anderes?«, sprach Frau Dorfner Patrick an.

»Ein Tee wäre gut«, antwortete Patrick.

»Nehmt schon mal da drüben am Tisch Platz. Ich komme gleich wieder.«

Bald kehrte Frau Dorfner mit einem Tablett zurück, auf dem eine Kanne Tee und Tassen standen. Nach dem ersten Schluck Tee, erzählten Kathrin und Patrick ihr die ganze Geschichte. Frau Dorfner konnte sich nicht erklären, wer dieser Mann gewesen war. Sie stellte fest, das Bücher fehlten, bemerkte aber dann, dass dafür Geld in der Schublade neben der Kasse lag. Frau Dorfner verzichtete auf die Polizei, schließlich hatte der Mann nichts gestohlen.

Als Kathrin und Patrick den Buchladen verlassen hatten und auf dem Heimweg waren, grübelte Kathrin: »Ich verstehe das nicht. Warum hat Argon das bloß getan?«

»Keine Ahnung«, bekam sie als Antwort.

»Blöd! Wir wissen gar nicht, wo Argon wohnt«, sagte Kathrin.

»Vielleicht treffen wir ihn nächstes Wochenende bei den Ritterspielen«, sagte Patrick.

Kathrin blickte erstaunt.

»Ich habe zwei Freikarten bekommen«, sagte Patrick aufgewühlt.

»Woher?«, wollte Kathrin wissen.

»Von meinem Vater«, lächelte Patrick zufrieden. »Kommst doch mit, oder?«

Kathrin zögerte, dann sagte sie: »Klar.«

Patrick freute sich.

»Ich glaube aber nicht, dass wir Argon dort treffen werden.« Kathrin senkte den Blick. »Kann mich total ärgern, dass ich ihn nicht nach seinen Kontaktdaten gefragt habe.«

»Konntest ja nicht ahnen, dass er dich anlügen würde«, erwiderte Patrick.

»Ja«, brummte Kathrin ärgerlich und hob wieder den Blick.

 

 

Als Kathrin aufwachte, schien das Licht durch das Fenster in ihrem Zimmer grau und leblos. Ihr erster Gedanke war, dass es noch sehr früh sein musste und es noch vor Morgengrauen war. Sie hatte die Nacht unruhig geschlafen. Die Augen schließen, um noch etwas zu dösen, wollte sie nicht, denn heute war Wochenende, und sie wollte sowieso früh aufstehen, weil sie gleich mit Patrick zu den Ritterspielen gehen wollte.

Bin mal gespannt, was Argon uns zu sagen hat, dachte sie und quälte sich aus dem Bett.

Als Kathrin in die Küche ging, war ihre Mutter da.

»Morgen, Mom«, sagte Kathrin.

»Morgen, Kathrin.«

Kathrin setzte sich an den gedeckten Küchentisch, während ihre Mutter frische Waffeln zubereitete. Charly schlief heute wohl etwas länger, das war gut so, dann konnte Kathrin sofort nach dem Frühstück ins Bad.

»Du bist heute so still, Kathrin«, fiel ihrer Mutter auf.

»Habe nicht gut geschlafen«, sagte Kathrin.

Kathrins Mutter öffnete das Waffeleisen und verteilte die fertigen Waffeln auf zwei Teller.

»Möchtest du Puderzucker?«, fragte sie.

»Ja, gerne«, antwortete Kathrin.

Dann saßen sie zusammen am Tisch und aßen frische Waffeln.

»Schmeckt wie immer total lecker«, freute sich Kathrin über die Waffel. »Danke, Mom.«

Nach dem Frühstück eilte Kathrin ins Bad. Danach stand sie in ihrem Zimmer vor dem Spiegel und legte ihr Gewand an. Sie betrachtete sich kritisch, zupfte hier und da noch etwas an dem Kleid zurecht.

Die Gürteltasche aus Nubukleder trug sie an einem langen Ledergürtel an ihrer rechten Seite und den Dolch, den Argon ihr geschenkt hatte, trug sie an ihrer linken Seite.

»Okay, gut so.« Kathrin war zufrieden.

Sie nahm behutsam den kleinen Lederbeutel an sich, in dem sich vier Fläschchen mit Zaubertränken befanden, und steckte den Beutel in die Gürteltasche.

Dann griff Kathrin nach dem Wanderstock und betrachtete sich den Drachenknauf. Wundervoll, dachte sie und verließ ihr Zimmer.

Im Wohnzimmer wartete sie zusammen mit ihrer Mutter auf Patrick. Charly hatte sich eben noch von Kathrin verabschiedet und ihr einen schönen Tag gewünscht. Kathrins Mutter lobte wieder das Gewand und sagte, dass sie wundervoll darin aussehen würde. Von dem Dolch an ihrer Seite war sie nicht begeistert, aber sie stimmte zu, dass Kathrin ihn tragen durfte.

Und dann klingelte es endlich an der Tür. Kathrin war ganz aufgeregt, als sie zur Tür eilte, gefolgt von ihrer Mutter, die zum Abschied wieder sagte, dass Kathrin und Patrick ein schönes mittelterliches Paar abgeben würden. »Mom!« Kathrin bemerkte, dass ihr Gesicht rot anlief. Dann bewunderte ihre Mutter den Wanderstock von Patrick, der einen Bärenknauf besaß. An einem Ledergürtel trug Patrick rechts eine kleine, braune Ledertasche und links den Dolch von Argon, der in einer Lederscheide steckte.

»Mein Paps wartet unten«, sagte Patrick.

Patricks Vater stand wieder mit dem Wagen vor der Tür und wollte die beiden zum Fest fahren und auch wieder abholen.

»Du hast einen tollen Vater«, sagte Kathrin darauf und wandte sich ihrer Mutter zu: »Du bist auch ganz toll, Mom«, sagte sie. »Ich liebe dich, Mom.« Kathrin umarmte ihre Mutter ganz fest.

»Danke, Kathrin«, flüsterte ihrer Mutter.

»Auf Wiedersehen, Frau Mitchell«, verabschiedete sich Patrick von ihr.

»Viel Spaß euch beiden.«

Kathrin und Patrick gingen.

 

 

Kathrin und Patrick hatten sich von Patricks Vater verabschiedet und machten sich schnurstracks auf den Weg zu Argons Stand. Patrick hatte Mühe ihr zu folgen.

»Mal langsam, Kathrin!«, sagte Patrick befehlerisch, doch Kathrin reagierte nicht darauf. »Also, Kathrin, du bist zu aufgebracht«, fing Patrick an, »also, wenn du weiter so rennst, kannst du alleine gehen.«

Kathrin wandte sich Patrick zu, der ihr dicht folgte.

»Komm mal wieder ein bisschen runter«, legte Patrick ihr ans Herz.

»Hm, ich könnte Argon ...«, fing Kathrin an, und Patrick unterbrach sie: »Könnte ich auch. Aber wenn du so bei ihm aufschlägst, Kathrin, erreichst du nichts. Vielleicht gibt es sogar Streit zwischen euch.«

Kathrin verlangsamte das Tempo.

»Okay«, sagte sie.

»Wirklich?«

»Ja.«

Sie gingen schweigsam nebeneinander in Richtung Argons Stand.

»Da ist er ja wirklich«, brummte Kathrin plötzlich, als sie Argons Stand in der Ferne sah. Kathrin hörte, wie Patrick schwer seufzte, und Kathrin sagte: »Ich werde ihm ganz in Ruhe die Fragen stellen.«

»Oh, ihr seid wieder hier, das freut mich«, begrüßte Argon sie freundlich, als wäre nichts gewesen.

Er kann ja noch gar nicht wissen, dass wir letzten Montag im Buchladen waren, dachte Kathrin, doch dann erinnerte sie sich, dass sie und Patrick letzten Mittwoch mit Argon im Buchladen verabredet waren, weil sie Argon dort aushelfen wollten, um ihre Schulden zu begleichen. Argon musste es also irgendwie vermuten, dass sie wussten, dass Frau Dorfner wieder den Laden führte, und genau das machte Kathrin unheimlich wütend.

»Kathrin ...«, hörte sie Patrick sagen, doch sie kümmerte sich nicht um ihn.

»Sie haben uns angelogen«, fuhr Kathrin Argon ziemlich heftig an.

»Oh, nicht so hitzig, junges Fräulein«, schmunzelte Argon.

Kathrins Augen wurden zu Schlitzen. »Fräulein?«, sagte Kathrin scharf und fuhr fort: »Das Fräulein wird Ihnen gleich ...«

»He, Kathrin«, fuhr Patrick dazwischen und griff sie am Arm. »Nicht so hitzig«, ermahnte er sie ebenfalls.

»Alles ... klar ... Patrick«, sagte Kathrin zwischen tiefen Atemzügen.

»Gib mir eine Möglichkeit euch das zu erklären, Kathrin«, bat Argon sie. »Und verzeiht mir für meine Notlüge.«

»Hm«, brummte Kathrin lautstark und hob dabei ihren Wanderstock ein wenig an. »Da müssen Sie ...«

»Kathrin, bitte«, sagte Patrick eindringlich. »Du hast es mir fest versprochen!«

»Okay ... okay«, nickte Kathrin langsam und atmete tief durch. »Dann fangen Sie mal an!«, sprach Kathrin Argon an.

»Wir hatten uns doch schon auf das Du geeinigt«, sagte Argon freundlich.

»Ich duze meine Freunde«, fing Kathrin an, »aber Freunde lügen sich nicht an.«

»Manchmal, wenn es nicht anders geht ...« Argon brach ab. »Also, gut, Frau Mitchell, wie Sie wollen.«

Kathrin stutzte. Das Sie kam ihr jetzt auch irgendwie blöd vor. Dann stellte Kathrin fest, dass sie schon von Standbesitzern und Besuchern beobachtet wurden. Das verschaffte ihr ein beunruhigendes Gefühl dazu.

»Wir können in die Sonderausstellung gehen, dort ist es um diese Uhrzeit leer, und ich kann euch dort alles erklären«, schlug Argon vor. Als Argon keine Antwort erhielt, sprach er Kathrin direkt an: »Sind Sie damit einverstanden, Frau Mitchell?«, betonte er.

»Hm, also ...«, brummte Kathrin leise, »... das finde ich jetzt auch nicht so gut. Also, wie wäre es, wenn wir uns weiterhin duzen?«

»Wie du möchtest, Kathrin«, sagte Argon sanft und lächelte sie freundlich an.

Sie einigten sich und machten sich auf den Weg zur Sonderausstellung, die in der Tat zu dieser Zeit nicht gut besucht war.

Sie streiften durch die Schlossräume, doch hier und da begegneten sie trotzdem einigen Besuchern. Argon steuerte zielstrebig auf eine Tür zu.

»Da steht aber PRIVAT drauf«, bemerkte Patrick.

»Ja, genau«, sagte Kathrin. »Da können wir Ärger bekommen.«

Argon blieb vor der Tür stehen und wandte sich den beiden zu. Ohne Worte überreichte er Kathrin und dann Patrick einen kleinen Lederbeutel.

»Was ist denn da drin?«, fragte Kathrin sofort, und Patrick schaute schon nach. »Da sind ja Goldmünzen drin.« Patrick war verblüfft, und nun öffnete auch Kathrin den Lederbeutel und staunte.

»Was soll das, Argon?«, wollte Kathrin wissen und brachte Argon großes Misstrauen entgegen.

»Die Münzen sind für euch. Werdet ihr vielleicht noch brauchen«, sagte Argon.

»Die sind 'ne Menge Wert«, stellte Patrick fest.

»Kann sein«, sagte Argon gleichgültig.

»Und die sind wirklich für uns?«, stutzte Patrick.

»Ja«, antwortete Argon.

»Okay«, nickte Patrick. »Danke.«

»Danke?«, staunte Kathrin über die Reaktion von Patrick. »Und mehr hast du nicht zu sagen?« Kathrin wandte sich ihm mit einem verstörten Blick zu.

»Ähm. Was hast du denn, Kathrin?«, fragte Patrick naiv, und seine Stimme wurde leiser, so als hätte er einen Kloß im Hals.

»Was hast du denn, Kathrin?«, äffte Kathrin ihn temperamentvoll nach. »Mensch, Patrick! Kommt dir das denn nicht komisch vor?« Als Patrick nichts sagte, wandte Kathrin sich Argon zu: »Sie ... Du schenkst uns doch keine Goldmünzen einfach nur so, oder?«, sprach Kathrin fordernd. »Also, raus mit der Sprache, Argon! Was willst du von uns?«

Dann griff Argon unter seinen Umhang und holte einen seltsamen Stein aus der Hosentasche hervor. Patrick war daran sehr interessiert, und Kathrin wollte wissen, was dieser Stein für eine Bedeutung hatte.

»Tja, das ist alles nicht so einfach zu erklären. Das braucht seine Zeit«, sagte Argon.

»Dann fängst du besser gleich mal damit an!«, sagte Kathrin befehlerisch. »Also, Argon, ich habe Zeit, sehr viel sogar. Bevor du uns keine vernünftige Erklärung gegeben hast, rühre ich mich nicht vom Fleck.«

»Bitte, vertrau mir, Kathrin«, flehte Argon.

»Dir vertrauen?« Kathrin regte sich ungemein auf. »Du hast uns schon einmal belogen, Argon.«

Argon verzog keine Miene. »Es ist sehr wichtig, Kathrin. Ich mache euch einen Vorschlag. Ich zeige euch etwas, und ihr entscheidet dann, ob ihr meinen Vorschlag annehmen wollt oder nicht.«

»Hm«, sagte Kathrin und musterte Argon scharf.

»Okay.« Patrick war einverstanden. »Was soll schon passieren?«, wandte er sich Kathrin zu.

Kathrin kniff die Augen zusammen.

»Hast du Angst, dass Argon uns etwas Schlimmes antuen könnte?«, fragte Patrick.

Kathrin schluckte und blickte Argon verlegen an. »Nein, natürlich nicht. Ich habe nur ein schlechtes Gefühl bei der Sache.«

»Was denn für ein Gefühl?«, wollte Patrick wissen.

»Wirklich, Patrick, du nervst«, fuhr sie ihn an. »Am See hast du mir gesagt, dass Argon dir merkwürdig vorkommt. Nun willst du ihm blindlings folgen?«

»Aber ...«, fing Patrick an, und Kathrin sagte: »Verflixt, Patrick! Sei still!«

»Bitte, kommt mit mir!«, flehte Argon, öffnete die private Tür und ging voraus.

Patrick zuckte mit den Schultern und wollte Argon folgen.

»He, hallo, Patrick«, wunderte sich Kathrin. Patrick zögerte und wandte sich Kathrin zu.

»Du willst doch wissen, was Argon uns zeigen will, also ...«, sagte Patrick »... worauf wartest du noch?«

»Okay, okay«, leierte Kathrin herunter.

»Komm, Kathrin«, sagte Patrick und wedelte mit dem Wanderstock, dann trat er durch die geöffnete Tür.

»Was soll's«, zuckte Kathrin mit den Schultern und folgte Patrick.

»Mach die Tür zu!«, sagte Patrick. »Wir wollen ja nicht, dass es jemandem auffällt.«

»Jaja«, sagte Kathrin und schloss die Tür hinter sich.

Es blitzte und funkte. Kathrin wurde so geblendet, dass sie nichts mehr sehen konnte.

»Patrick, wo bist du?«, rief sie panisch.

Patrick antwortete nicht.

»Patrick?«

Nichts.

»PATRICK«, rief sie nochmals.

 

 

 

 

Ende der Leseprobe