Kaspar - Die Reise nach Feuerland


Der zwölfjährige Sebastian Kaspar Addams lebt in London und ist fasziniert von magischen Welten. In den Sommerferien verbringt er mit seinen drei Freunden eine Woche bei seinem Großvater. Im Gartenhaus machen sie eine außergewöhnliche Entdeckung: Sie finden ein mysteriöses Pergament, das sie zu einer magischen Karte führt. Als dann auch noch ein Erdgeist auftaucht und verlangt, dass Kaspar mit ihm kommen soll, beginnt für sie ein fantastisches Abenteuer, das über die Grenzen dieser Welt hinausführt ...

 


Dieses Buch ist

meinem Vater Jakob

und

seiner Hanni

gewidmet,

von ganzem Herzen.

 

 

 

 

Inhalt

 

Erstes Kapitel: Sommerferien 9 (LESEPROBE)

Zweites Kapitel: Großvater Joe 35

Drittes Kapitel: Erdgeistgeflüster 65

Viertes Kapitel: Abenteuer Nummer Eins 92

Fünftes Kapitel: Adler-Junge 115

Sechstes Kapitel: Kanau 140

Siebtes Kapitel: Zwielichtige Gestalten 159

Achtes Kapitel: Neue Freundschaft 180

Neuntes Kapitel: Dämonische Hexen 196

Zehntes Kapitel: Die Reise geht weiter 264

 

Personen-, Orts-, und Sachverzeichnis 275

 

Danksagung 280

An meine Leserinnen und Leser 281

Von Dan Gronie 282

 

 

 

 

Sommerferien

 

Es war noch früh am Morgen und eine schläfrige Stille lag über dem Londoner Stadtbezirk Bexley nur bei Familie Addams dröhnte die Stimme von William durch das gesamte Haus: »Sebastian, steh endlich auf!«

William saß am Küchentisch und hatte mal wieder eine Stinklaune.

»Der Junge kommt einfach nicht aus den Federn«, schimpfte William laut und wandte sich seiner Frau Rebecca zu.

»Hab ein wenig Geduld, William. Er wird gleich kommen«, sagte Rebecca ruhig.

»Er hat nur diesen Unsinn im Kopf.«

»Was meinst du?«

»Na, diesen ... diesen Fantasykram – er schwärmt nur noch von anderen Welten, von Drachen und Zauberern – er spielt mit seinen Freunden diesen ... diesen Quatsch ... diese Fantasy-Rollenspiele: Drachenjäger Teufelslord«, schimpfte William und holte kurz Luft. »Er soll mehr für die Schule lernen. Was soll aus diesem Jungen nur einmal werden?«, brüllte er und hämmerte mit der Faust auf den Tisch.

»Er ist noch ein Kind, William.«

Mit einem mürrischen Blick stand William auf und ging zur Küchentür.

»Sebastian«, hallte Williams dunkle Stimme das Treppenhaus hinauf, in den ersten Stock. »Steh endlich auf! Wenn du glaubst, du könntest am letzten Schultag zu spät zum Frühstück erscheinen, dann liegst du falsch, Bursche. Dann fährst du in den Ferien nicht zu Großvater. Hast du mich verstanden?«

»Ach, William, sei nicht so streng mit dem Jungen.«

»Er muss lernen, dass man im Leben nichts geschenkt bekommt, Rebecca«, sagte William mit Nachdruck. »Gar nichts, das kannst du mir glauben!« Dann brüllte William wieder das Treppenhaus hinauf: »Also, raus aus den Federn, Sebastian! Ich warne dich, übertreibe es nicht! Meine Geduld ist gleich am Ende!«

»Er ist erst zwölf Jahre, William«, ermahnte Rebecca ihn.

Sie nahm einen Schluck Tee zu sich und stellte die Tasse polternd auf den Küchentisch zurück.

William verzog missmutig das Gesicht. »Eben drum«, brummte er seine Frau an. »Sebastian soll früh lernen, was es heißt, erwachsen zu werden, Rebecca.«

»Sebastian, wo bleibst du?«, brüllte er aus voller Kehle.

»Ja, ich komme gleich, Vater«, stöhnte eine verschlafene Stimme aus dem zweiten Zimmer im ersten Stock. »Mein Vater hat eine Stimme wie ein Bergtroll«, fluchte Sebastian, der die lauten Gespräche zwischen seinem Vater und seiner Mutter mitbekommen hatte.

»Sofort!«, rief William das Treppenhaus hinauf. »Hast du mich verstanden, Söhnchen?«

 

***

 

Sebastian hörte, wie sein Vater in der Küche fluchend einen Kessel auf den Herd stellte. Sebastian schlug die Bettdecke zurück und kroch aus dem Bett. Er ging schlafwandelnd ins Bad und unterzog sich einer Katzenwäsche.

Als Sebastian hinunter in die Küche kam, empfing ihn sein Vater mit den Worten: »Hast du dir auch die Zähne geputzt?«

»Das mach ich nach dem Frühstück«, antwortete Sebastian verschlafen und genervt zugleich.

»Komm zu mir, Sebastian«, sagte Rebecca sanft und deutete auf den leeren Stuhl an ihrer rechten Seite.

»Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder!«, brummte William Sebastian an. »Manuel ist stets pünktlich und wäscht sich immer gründlich.«

Sebastian sah zu Manuel, der ihm gegenüber neben seinem Vater saß. Manuel grinste Sebastian an. Als Sebastian leise aber unüberhörbar sagte: »Das hat Manuel auch nötig – er riecht halt wie ein Stinktier«, erlosch das Grinsen im Gesicht von Manuel abrupt, als hätte Sebastian seinem Bruder einen Eimer Eiswasser mitten ins Gesicht geschüttet.

»Was hast du da gerade gesagt, Sohn?« Williams Stimme schwoll verdammt gefährlich an.

»Nichts, Vater«, sagte Sebastian kleinlaut.

Williams düsterer Blick verriet Sebastian, dass er sich eben wohl etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte, und er stellte sich auf eine harte Strafe ein, doch zu seiner Verwunderung nickte sein Vater und sagte nur: »Gut, dann sei still und iss dein Frühstück!«

Vielleicht lag es an dem strafenden Blick seiner Mutter, den sie William eben zugeworfen hatte, dass Sebastian keine Strafe von seinem Vater erteilt bekommen hatte.

»Möchtest du ein Glas Milch, Sebastian?«, fragte Rebecca sanft.

Sebastian nickte mit vollem Mund.

»Wie heißt das, Sohn?« Williams Stimmung wollte einfach nicht besser werden. Das lag sicher daran, dass William heute an einer Mitarbeiterversammlung teilnehmen musste, bei der er die aktuellen Verkaufszahlen vorstellen sollte – und die waren für dieses Quartal miserabel.

»Gerne, Mutter«, sagte Sebastian mit vollem Mund.

»Mach den Mund leer, bevor du sprichst!«, ermahnte William ihn.

Sebastian aß schweigend sein Sandwich. Manuel lächelte gehässig und trat seinem Bruder unter dem Tisch vors Schienbein.

»Hey, du Furzbacke ...«, schimpfte Sebastian und schwieg, als er in die finstere Miene seines Vaters blickte.

»So, jetzt reicht es mir aber, Freundchen, du fährst nicht ...«

»William«, unterbrach Rebecca ihren Mann, »halt dich zurück!«, dann wandte sie sich Sebastian zu und sagte merklich streng: »Du gehst sofort nach oben und putzt dir die Zähne, Sebastian, bevor du in die Schule gehst!«

Sebastian war froh, dass ihn seine Mutter fortschickte, denn sein Vater hätte ihm sicherlich Hausarrest gegeben, und dann hätte er in den Ferien nicht zu Großvater fahren können. Sebastian lief die Treppe hinauf, als würde der Leibhaftige ihn verfolgen. Oben angekommen blieb er schwer atmend stehen.

»Vater, du Stinkstiefel – du Bergtroll«, leise schimpfend beugte sich Sebastian über das Treppengeländer und lauschte, was seine Mutter zu sagen hatte.

»Und du, Manuel«, Rebeccas Stimme hörte sich zornig an, »wenn ich noch einmal sehe, dass du deinem Bruder gegen das Schienbein trittst, und hoffst, dass Sebastian darauf etwas Schlimmes zu dir sagt, damit sein Vater ihn dafür bestraft, werde ich dir den Hosenboden mit einem Kochlöffel versohlen ...«, Rebecca machte eine kurze Pause, bevor sie streng weitersprach, »... und glaube mir, Manuel, dass du Tage danach noch Sitzprobleme haben wirst.«

William wollte seinem Sohn Manuel beistehen. »Aber Sebastian hat ...«

»Nichts hat Sebastian getan«, unterbrach Rebecca ihren Mann, »und hör endlich auf, deine schlechte Laune an dem Jungen auszulassen!«

William schwieg.

»Geh dir auch die Zähne putzen, Manuel!« Rebecca deutete mit einer Geste zur Küchentür.

»Aber ich bin noch nicht fertig, Mutter«, wandte Manuel ein.

Rebecca wartete geduldig, bis Manuel sein Glas Orangensaft ausgetrunken hatte.

»So, jetzt geh nach oben. Ich habe noch etwas mit deinem Vater zu besprechen«, sagte Rebecca in ruhigem Ton.

Als Manuel murrend die Treppe hinaufging, weil er natürlich gerne dabeigeblieben wäre, um zu hören, was seine Mutter mit seinem Vater zu bereden hatte, sagte Rebecca, unüberhörbar für Sebastian und Manuel: »Das ist absolut nicht richtig von dir, William, Manuel lässt du alles durchgehen, das geht nicht so weiter. Du kannst deinen Frust nicht dauernd an Sebastian auslassen. Das lasse ich nicht weiter zu. Du hättest Manuel bestrafen müssen, für das, was er eben getan hat.«

Sebastian war neugierig, was sein Vater antworten würde, doch er schwieg.

Sebastian drängelte sich im Treppenhaus an Manuel vorbei und lief hinunter, schwang seinen Schulrucksack auf den Rücken und gab seiner Mutter einen Kuss auf die Wange. »Bis nachher, Mutter«, sagte er und rannte zur Haustür.

»Hey, Sebastian, ich wollte dir sagen, dass ich vorhin ... also, es tut mir ...«

»Keine Zeit, Vater, sonst komme ich zu spät zur Schule«, und schon war Sebastian durch die Haustür verschwunden.

Sebastian hatte es nicht sonderlich eilig damit in die Schule zu kommen, er wollte nur raus aus dem Haus, weg von seinem strengen Vater und blöden Bruder – ein paar Minuten früher oder später im Unterricht zu sein, das war ihm im Augenblick völlig egal.

 

***

 

»Guten Morgen, Sebastian.« Niko Coleman kam fröhlich in die Klasse und setzte sich mit einem breiten Grinsen neben Sebastian und legte einen Schokoladenriegel auf das Pult.

»Ich hab überhaupt keinen Bock auf Mathe«, hörte Sebastian seinen Freund Lars Sandler hinter sich stöhnen.

»Ja, ich könnte auch das Kotzen kriegen, wenn ich daran denke«, erwiderte Niko und seine Fröhlichkeit verflog im Nu. »Mathe bei Herrn Titus – ich könnte glatt Furzbomben loslassen«, sagte Niko mit ernster Stimme, dann stand er auf und lächelte, hob mit beiden Händen seinen dicken Bauch empor und sagte mit dunkler Stimme: »Furzbomben extra für Henry Titus.«

Lars und viele Klassenkameraden hatten ihren Spaß, als Niko die Geste wiederholte. Nur Sebastian saß schweigend da und verzog missmutig die Mundwinkel.

»Ihr seid albern, Jungs«, empörte sich Juana über Nikos Benehmen. Sie kam von links und setzte sich an den Schultisch hinter Sebastian, neben Lars.

Niko setzte sich wieder hin und wandte sich ihr langsam zu. »Ah, unsere liebe Miss Portman hat heute wieder beste Laune. Hast du keine Lust auf Furz...«

»Ach, sei still du dicker Furzbär«, winkte Juana ab.

Lars lachte laut. »Dicker Furzbär«, wiederholte er. »Dicker Furzbär.« Lars bekam sich nicht mehr ein. Doch dann schwieg er sofort, als ihn der zürnende Blick von Niko traf.

»Was soll das heißen?«, fuhr Niko Juana an. »Was soll das heißen?«, sagte er wieder.

»Das heißt, dass du fett bist!«, kam es von Victor Bainbridge, der gerade an Sebastian vorbeiging und Niko belächelte. »Und dicke Jungs furzen für gewöhnlich mehr als dünne. Also bist du ein Furzbär ein dicker Furzbär.«

Niko sprang auf. »Willst du eine Gesichtsverschönerung, Victor?«, sagte Niko mit wilder Entschlossenheit, und für Nikos Mitschüler sah es so aus, als wollte er seine Worte gleich in die Tat umsetzen. »Nur zu, komm her, Victor!«

»Lass es gut sein, Niko«, ermahnte Sebastian seinen Freund, als er sah wie Niko die Fäuste ballte.

»Ey Mann, da krieg ich ja Angst, wenn ich sehe, wie ein dicker Furzbär seine Fäuste ballt«, höhnte Victor.

»Es reicht, Victor Bainbridge, du wiederholst dich zu oft«, stand Juana Niko bei, »aber, was will man von einem ...«

»Sei still du Mauerblümchen«, fuhr Victor sie an. Juana wirkte hilflos, denn ihr blieb der Mund ein Stück offen stehen.

»So, das reicht jetzt aber wirklich, Victor«, sagte Niko, und Sebastian hatte alle Mühe seinen Freund zurückzuhalten. »Der Lehrer wird gleich kommen, und wenn du eine Prügelei anfängst, gibt es Nachsitzen. Heute ist der letzte Schultag, denk dran, Niko! Und wenn ich in eine Prügelei verwickelt werde und nachsitzen muss, dann lässt mich mein Vater nicht zu Großvater fahren, bitte sei vernünftig, Niko.«

»Ja, Niko, hör auf deinen Loser-Freund, Sebastian!«, fuhr Victor ihn an.

»Ich zeig dir gleich, wer hier ein Loser ist«, fauchte Niko.

Sebastian hielt Niko mit beiden Händen zurück.

»Halt du deinen Primaten-Freund gut fest, Sebastian!«, höhnte Victor. »Gib ihm eine Banane zur Beruhigung!«

Der Lehrer Henry Titus betrat das Klassenzimmer und mit einem Mal war es mucksmäuschenstill.

»Wie ich sehe, amüsiert ihr euch, Kinder«, sagte Herr Titus und ging zum Lehrerpult. Seine schmalen, braunen Augen hefteten sich an Niko fest. »Seite vierundzwanzig aufschlagen«, sagte er kühl und setzte sich auf seinen Platz. »Niko, du kommst an die Tafel und rechnest uns die dritte Aufgabe vor!«

»Ja, aber ...«, stotterte Niko, »ich würde ...«

»Gerne etwas essen – etwa deinen Schokoladenriegel«, beendet Herr Titus den Satz, und seine buschigen Augenbrauen bewegten sich auf und ab. »Nein – du willst nichts essen, Niko? Los, steck den Schokoladenriegel in deine Schultasche «, sagte Herr Titus mit einem abwertenden Ton in der Stimme, » und komm nach vorne und rechne uns die Aufgabe vor!«, grinste er Niko gefährlich an. »Oder willst du heute Nachmittag etwa alleine hier an der Tafel üben?«, sagte er grimmig. »Schnell an die Tafel mit dir, Junge, bevor ich die Geduld verliere!« Der Lehrer schlug mit der Handfläche auf den Tisch, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

Niko nickte ängstlich und ging langsam nach vorne. Als Niko einen Blick zurück, über die Schulter warf, sah Sebastian seinem Freund an, dass er liebend gern, das fies lächelnde Gesicht von Victor Bainbridge bearbeitet hätte.

»Äh, Herr Titus, jetzt habe ich mein Buch auf dem Tisch liegen gelassen«, stotterte Niko.

»Äh, Niko«, fing der Lehrer an, und wären seine Augen Dolche gewesen, hätten sie Niko geradewegs durchbohrt, »hier nimm!«, sagte er mit einem scharfen Tonfall und überreichte Niko sein Buch.

»Danke, Herr Titus.«

Niko verzog missmutig das Gesicht.

»Bitte, bitte, mein lieber Junge«, lächelte der Lehrer sanft und schrie dann gefährlich laut: »Fang endlich an zu rechnen!«

Niko wäre fast das Kreidestück aus der Hand gefallen. Nachdem er die Aufgabe gelöst hatte, was dem Lehrer natürlich viel zu lange dauerte, gab er Niko deswegen einen Rüffel mit auf dem Weg zu seinem Platz. Niko sah sich seine Kreide verschmierten, feuchten Händen an und ließ sich auf den Stuhl fallen.

»Jetzt sieh dir nur mal meine Hände an«, flüsterte Niko Sebastian zu. »Kann dieser Urmensch nicht einen Computer mit einem Beamer oder einen Overheadprojektor benutzen, wie die anderen Lehrer es auch tun? Was hast du, Sebastian? Warum guckst du so irritiert? Sag schon was?«

»Willst du uns etwas mitteilen, Niko?«, brüllte Herr Titus Niko ins Ohr.

Niko hatte nicht bemerkt, dass der Lehrer direkt neben ihm stand.

»Nein, Herr Titus«, sagte Niko, »alles ist in bester Ordnung – wirklich.«

Der Lehrer hob die Augenbrauen und beugte sich zu Niko und Sebastian vor.

»Wenn ich in dieser Stunde noch einen Mucks von euch höre, dann werdet ihr nachsitzen «

Niko wich ein Stück zurück.

» bis spät abends. Habt ihr mich verstanden?«

»Ja, Herr Titus«, sagte Niko schnell.

Sebastian nickte nur.

»Gut«, hauchte Herr Titus und wandte sich wieder der Klasse zu. »Wer will die nächste Aufgabe vorrechnen?«

Herr Titus sah sich um.

»Ah, fein, ein Freiwilliger«, sagte er freudig. »Dann komm mal nach vorne an die Tafel, Victor«, freute der Lehrer sich und sagte an Niko gewandt: »An diesem Jungen solltest du dir mal ein Beispiel nehmen, Niko«, dann wandte er sich Sebastian zu, »und du auch«, ergänzte er.

Der Lehrer kehrte zu seinem Platz zurück.

Victor grinste Niko zu, als er an ihm vorbei zur Tafel ging.

»Victor, dieser Schleimbeutel«, schimpfte Niko leise, »dieser Schleimscheißer.«

»Sei still, Niko«, ermahnte Sebastian ihn. »Hast du Herrn Titus eben nicht richtig zugehört? Ich habe keine Lust auf Nachsitzen.«

Niko schwieg.

Kurz danach war eine der schlimmsten Unterrichtsstunden zu Ende, als die Schulglocke die Pause einläutete und Herr Henry Titus das Mathebuch schloss.

»Komm mal zu mir, Sebastian. Ich habe dir noch etwas zu sagen, bevor du in die Pause gehst«, rief der Lehrer.

»Dann bis gleich, Freunde«, sagte Sebastian und brachte ein schwaches Lächeln zustande, bevor er zu Herrn Titus ging.

Sebastian hörte noch, wie Niko zu Lars sagte: »Das gibt Ärger. Ich möchte jetzt nicht an seiner Stelle sein.«

Sebastian sah seinen Schulkameraden hinterher, die wie vom Teufel besessen aus der Klasse rannten, und Sebastian hatte das Bild vor Augen, wie sie sich in eine Schlange von Schulkindern einfügten, die sich träge das Treppenhaus vom ersten Stock hinabbewegte und aus dem Schulgebäude auf den Schulhof kroch.

Sebastian blickte in das ausdruckslose Gesicht des Lehrers, der mit monotoner Stimme fragte: »Du bist doch ein kluger Junge, nicht wahr, Sebastian?«

Der Blick von Herrn Titus hielt Sebastian fest im Griff wie ein paar Handschellen einen Verbrecher.

»Ich denke, Niko und Lars sind kein guter Umgang für dich«, sagte er mit aller Deutlichkeit, »und warum Juana sich mit den beiden Nichtsnutzen abgibt, ist mir bis heute ein Rätsel.«

Sebastian hatte Angst zu antworten. Was hatte der Lehrer nur gegen Niko und Lars? Wie kam er überhaupt dazu, ihm solche Dinge zu sagen?

»Niko und Lars haben nur Flausen im Kopf und stören dauernd den Unterricht«, betonte der Lehrer, doch die Worte gingen an Sebastian vorbei, weil er innerlich total aufgewühlt war. »Deine beiden Freunde halten dich vom Lernen ab, und du weißt ja selbst, dass deine Noten schlechter geworden sind«, sagte der Lehrer noch. »Hast du mich verstanden, Sebastian?«

Sebastian nickte, obwohl er nur die letzte Frage mitbekommen hatte.

»Das war alles, was ich dir sagen wollte, Sebastian«, sagte der Lehrer. »Dann sehen wir uns nach den Ferien wieder.«

Sebastian rannte aus der Klasse hinaus auf den Schulhof. Als er seine Freunde sah, winkte er ihnen freudig zu und rief: »He! Wartet auf mich!«

»Endlich, das war die letzte Sklavenunterrichtsstunde vor den Ferien bei Herrn Henry Titus«, sagte Lars erleichtert, als Sebastian neben ihn trat.

Sebastian nickte zustimmend. »Ja«, sagte er nur und zeigte das erste Lächeln am heutigen Morgen.

»Was wollte Herr Titus von dir?«, fragte Juana.

»Nichts, was von Bedeutung wäre«, winkte Sebastian ab. »Ihr seid meine besten Freunde und daran wird sich auch nichts ändern«, fügte er hinzu.

»Henry Titus «, sagte Niko schwer atmend, » der muss als Kind eine Spaßbremse gewesen sein – ganz bestimmt.«

»Die Spaßbremse Henry Titus«, lachte Lars.

Juana ging neben Sebastian. »Henry Titus, der Werwolf – so wird er von den Achtklässlern genannt«, schmunzelte sie.

»Das wusste ich noch gar nicht«, sagte Sebastian, und seine Stimmung hellte sich auf, als er die Kosenamen für Herrn Titus hörte – Spaßbremse und Werwolf.

»Wie ich sehe, amüsiert ihr euch, Kinder«, äffte Niko Herrn Titus nach. »Seite vierundzwanzig aufschlagen«, äffte er weiter und fuchtelte mit den Fingern vor Juanas Gesicht herum und sagte dann mit der gleichen monotonen Stimme wie der Lehrer: »Juana, du kommst jetzt an die Tafel und rechnest uns die Aufgabe vor!«

Sebastian lachte laut, wie auch Lars und Juana, die ihren Streit mit Niko längst beiseite gelegt hatte.

»Henry Titus ...«, Juana richtete den Blick auf Niko, »... der Werwolf – aber so schlimm ist er doch nicht, oder?« Sie musste ein Lachen unterdrücken, als sie Niko mit den Händen kreuz und quer herumfuchteln sah, so wie es der Lehrer im Unterricht tat, wenn er sich über einen Schüler ärgerte.

»Nö, er ist nett, wenn man Werwölfe mag – ja, dann kommt man gut mit Henry aus, denke ich«, gab Niko von sich. »Victor zum Beispiel, er mag sicherlich Werwölfe, das glaube ich ganz bestimmt, ja«, ergänzte Niko.

»Ja, das glaube ich auch«, lachte Sebastian.

Niko holte ein belegtes Sandwich hervor und biss so hungrig hinein, dass die Mayonnaise an der Seite herausquoll und zu Boden tropfte.

»Hey, pass doch auf!«, warnte Lars ihn, als Niko den zweiten Bissen machte und die Mayonnaise fast auf Lars' Schuhe getropft wäre.

»Stell dich mal nicht so an, Lars, mein Freund«, bekam er von Niko zu hören, dabei blähten sich seine Pausbacken auf.

Sebastian stand in Gedanken versunken bei seinen Freunden. Ihm gingen die Worte von Herrn Titus nicht aus dem Kopf, der sagte, dass Niko und Lars kein guter Umgang für ihn wären.

Juana lächelte Sebastian kurz an und wandte sich dann wieder Niko und Lars zu, die in ein Gespräch vertieft waren.

»He, Kumpel«, Niko legte plötzlich die Hand auf Sebastians Schulter, »du bist so schweigsam.«

»Ich habe gerade über das Gespräch nachgedacht, dass ich mit Herrn Titus hatte.«

»Hör auf über das nachzudenken, was diese trübe Flasche dir gesagt hat«, winkte Niko ab, »der hat doch keine Ahnung vom tatsächlichen Leben.«

»Damit liegst du wohl richtig«, grinste Sebastian.

»Ich freue mich schon auf die Ferien«, lenkte Juana auf ein anderes Thema.

»Ja, ich auch, Juana.« Der Ausdruck von Abenteuerlust lag in Sebastians strahlend blauen Augen. »Endlich weg von zu Hause«, sagte Sebastian mit fröhlicher Stimme.

»Wenn ich an den großen Garten von deinem Großvater denke.« Lars Augen leuchteten auf. »Ich kann's kaum noch abwarten.«

Niko klopfte Sebastian auf die Schulter. »Ich freue mich schon auf die Süßigkeiten, die es bei deinem Großvater geben wird, Sebastian.« Niko wackelte mit seinem Bauch und strahlte über das ganze Gesicht, als er sagte: »Seht her, hier passt noch einiges rein.« Er wackelte weiter mit dem Bauch und brüllte: »Seht alle her, hier passt noch einiges rein.«

Lars pustete seine Wangen auf und ließ langsam die Luft ab. »Du kriegst noch so dicke Backen, Niko.«

»Na und? Ich freue mich trotzdem auf die Süßigkeiten.« Nikos Augen leuchteten wie ein heller Abendstern.

Sebastian lachte und machte Lars nach. »Ja, so dicke Backen«, lästerte er.

»Deiner Figur tut das bestimmt nicht gut.« Lars deutete mit dem Finger auf Nikos dicken Bauch.

Niko warf Lars einen finsteren Blick zu, worauf sich Lars' Mundwinkel zu einem breiten Lächeln verzogen.

»Entschuldigung, Niko, war nicht böse gemeint.«

Nikos Miene hellte sich schnell wieder auf. »Ach, egal, Lars, vergiss es. Ich weiß, dass ich dick bin. Was soll's?«

Juana lächelte sanft. »Bei Sebastians Großvater können wir wieder zusammen Drachenjäger oder Teufelslord aus dem Elfenreich spielen«, schwärmte sie ihren Freunden vor.

»Und das nicht nur einen Tag, Freunde, sondern eine ganze Woche lang.« Niko machte ein grimmiges Gesicht und sprach mit veränderter dunkler Stimme: »Es bereitet mir Unbehagen und es gefällt mir überhaupt nicht, an der Seite der Menschenwesen zu kämpfen.«

Lars trat ihm entgegen und sagte: »Ja, du hast recht, Teufelslord, sie sind schwach und sterblich.«

»Hey, das war gut, Jungs«, wandte Juana ein. Dann warf sie ihre langen Haare zurück, und sie sprach mit verstellter Stimme: »Vor vielen Tausend Jahren sind wir ohne die Menschenwesen ausgekommen, wir haben gegen Orks und anderes Pack gekämpft und wir haben gewonnen ...«

Sebastian trat an Juanas Seite und unterbrach sie mit lauter Stimme: »... doch nun müssen wir ein Bündnis mit den Menschenwesen schmieden, damit die Orks bezwungen werden können. Nicht nur unser Reich ist in Gefahr, sondern auch das der Menschen ...«

Victor Bainbridge und zwei seiner Kameraden kamen vorbei. »Na, Kinder, was spielt ihr denn schönes?« Victor verzog missmutig das Gesicht. »Kinderspiele, oder was?« Victor visierte Niko an, der seinem Blick standhielt.

»Verschwinde, Victor, bevor ...«

»Bevor was, Coleman?«, unterbrach Victor ihn.

»Ach, komm, Niko, lass ihn reden, wir wollen doch jetzt keinen Ärger bekommen ... so kurz vor den Ferien«, sagte Lars mit piepsender Stimme.

»Hat dich jemand nach deiner Meinung gefragt, Storchbein Sandler?«, Victor visierte nun Lars an und stupste ihn mit den Worten weg: »Dürrrippe Lars, halt's Maul!«

»Hey, du Flegel«, sagte Juana energisch und wandte sich Victor zu.

»Was willst du denn, Mauerblümchen?«

»Das nimmst du zurück!«, sagte Sebastian und stand Victor gegenüber.

»Oder, was?« Victor trat einen Schritt vor. »Willst du mich etwa herausfordern? Du kleiner, verwöhnter Furz.« Victor trat so schnell einen Schritt vor und stupste Sebastian von sich fort, dass Sebastian rücklings zu Boden fiel. Das wird eine üble Beule geben, war Sebastian überzeugt, als er mit dem Hinterkopf kurz auf den Boden aufschlug.

Juana war entsetzt über Victors Tat. Schnell war sie an Sebastians Seite und sah nach, ob sich ihr Freund bei dem Sturz verletzt hatte.

»Ein süßes Pärchen seid ihr – der verwöhnte Furz und das Mauerblümchen«, lachte Victor.

»Über deine dämlichen Witze kannst'wohl nur selber lachen«, schritt Niko ein, »und natürlich deine Primatenbande.« Niko deutete auf Victors Kameraden.

»Was willst du denn Dickerchen?«, fauchte Victor. »Oder soll ich dich besser Fettbacke nennen?«

Juana runzelte die Stirn und sah Niko mit einem Ausdruck an, als wollte sie sagen, wir sollten Victor eine Lektion erteilen. Niko zuckte mit den Schultern und machte einen Schritt auf Victor zu. Als Niko ein übler Geruch in die Nase stieg, fragte er Victor mit lässiger Haltung: »Hast du wieder Väterchens Duftwasser benutzt?«

Niko blieb standhaft, obwohl ihn Victor ansah, als ob er jeden Augenblick mit der Faust zuschlagen wollte. »Nur zu, Victor«, forderte Niko ihn heraus. »Ich würde dir nämlich gerne eine Gesichtsmassage verpassen«, brummte Niko und drohte mit den Fäusten. »Nur keine Panik, Victor«, sagte er mit einem aufmunternden Lächeln.

Niemand sah, woher die Lehrerin Olivia Sandrock kam. Sie war plötzlich da und legte ihre Hand auf Victors rechte Schulter, der einen Riesenschreck bekam und in sich zusammenfuhr.

»Du machst immer nur Ärger, Victor«, schimpfte sie laut, so dass sich ihnen mehrere Schüler zuwandten.

»Sebastian und seine Freunde haben angefangen«, verteidigte Victor sich. »Niko wollte mich sogar schlagen.«

»Du kleiner Nichtsnutz«, sagte Frau Sandrock empört. »Du lügst ohne rot zu werden. Dagegen habe ich ein gutes Mittel.« Die Lehrerin machte eine bedächtige Pause. »Nachsitzen«, brüllte sie Victor an. »Und ihr beiden, ihr werdet ihm Gesellschaft leisten!« Sie deutete auf Viktors Kameraden.

Dann ließ sie Victors Schulter los und packte sein rechtes Ohr. »Du und deine Kameraden kommen jetzt mit mir mit, auf der Stelle!« Frau Sandrock schleifte Victor am Ohr hinter sich her und seine Freunde folgten ohne Widerworte.

»Das hat Folgen, Sebastian«, rief Victor erbost, »wir werden uns wieder sehen und dann ...«

Die Lehrerin blieb stehen und sagte: »Vor den Ferien sicherlich nicht mehr, Victor. Dafür sorge ich.«

»Was für Idioten!«, schimpfte Juana leise an Sebastians Seite.

»Das, was sie mit mir vorhaben, werde ich meinem Vater sagen«, fuhr Victor die Lehrerin laut an, die mit den Schultern zuckte und antwortete: »Gut, tu das, Junge, wenn du dich dann besser fühlst.«

»Er wird zum Direktor gehen«, warnte Victor.

»Kann er ja tun, er weiß ja, wo der Direktor sitzt«, antwortete Frau Sandrock gelassen. »Dein Vater war ja schließlich schon oft genug bei ihm wegen deinem unausstehlichen Benehmen«, ergänzte sie.

Die Lehrerin wandte sich kurz Sebastian und seinen Freunden zu und zwinkerte. Dann ging sie mit Victor und seinen Kameraden davon.

»Das geschieht denen recht«, freute sich Lars. »Victor, der Hohlkopf«, lästerte er.

Niko lachte. »Ja, Victor, der geborene Hohlkopf.«

»Lasst es gut sein, Lars Niko«, lenkte Juana ein. »Victor und seine Freunde werden ihre gerechte Strafe erhalten, dafür wird Frau Sandrock schon sorgen«, sagte sie freudig und wandte sich Sebastian zu. »Geht es dir wieder besser?«

»Ja, danke, Juana«, antwortete Sebastian.

»Wir sollten den Blödmann vergessen«, Niko deutete in Richtung Victor, »und uns lieber auf die Ferien bei deinem Großvater konzentrieren.« Niko wandte sich Sebastian zu. »Ja, in dem Garten von meinem Großvater können wir toben und brüllen ...«

»... so viel und so laut wir wollen«, beendete Lars den Satz.

»Und wir dürfen im Garten Löcher graben, um nach versteckten Schätzen zu suchen«, schwärmte Niko.

Sebastian spürte sein Herz vor Freude bis in den Hals klopfen. »Ich habe mir extra eine neue Schaufel gekauft«, sagte er.

»Und, hast du sie schon ausprobiert?«, wollte Juana wissen.

»Mein Vater würde mir den Hintern versohlen, wenn ich seinen Rasen umgraben würde«, gab Sebastian deprimiert zurück.

»Na ja, mein Vater würde mir vermutlich auch den Hintern verhauen«, sagte Lars.

»So ein Unmensch ist dein Vater doch auch wieder nicht«, wandte sich Juana an Sebastian.

»Dann müsstest du mal ein paar Tage bei uns bleiben«, stachelte Sebastian sich selber auf. »Ich darf nur selten im Garten spielen und muss immerzu lernen – mein Vater lässt meinem Bruder alles durchgehen und an mir hat er immer etwas auszusetzen. Ich habe oft das Gefühl, dass er Manuel mehr liebt als mich. Ihm hört er immer zu ... immer – und zu mir sagt er immer bloß: RUHE! «, Sebastian schwieg für einen kurzen Moment, » und wie würdest du das nennen, Juana?«, fragte er.

Juana zuckte mit den Schultern. »Aber deine Mutter ist doch ganz in Ordnung.«

»Ja, das ist sie«, Sebastian nickte zufrieden, »sie ist genau das Gegenteil von meinem Vater, deswegen streiten sich die beiden auch oft – meistens wegen mir, das finde ich zum ...«

»Ach, komm, Sebastian, lass es gut sein«, Niko klopfte ihm auf die Schulter, »denk lieber an die Ferien bei deinem Großvater – dann geht es dir bestimmt wieder besser.«

»Ja«, sagte Sebastian, »eine ganze Woche bei Großvater Joe. Das wird bestimmt ...«

»... super cool werden«, beendete Niko den Satz.

»Dein Großvater hat ein riesiges Haus.« Juana war begeistert. »Nur leider lebt er allein, seit dem plötzlichen Tod deiner Oma. Das tut mir irgendwie leid«, sie blickte Sebastian traurig an.

»Mir auch«, gab Sebastian zu.

»Fährt uns dein Vater oder deine Mutter?«, wollte Niko wissen.

»Mein Vater fährt uns, meine Mutter hat leider keine Zeit.« Enttäuschung lag in Sebastians Stimme.

Die Schulglocke läutete das Ende der Pause ein.

 

***

 

»Na, Sebastian, freust du dich schon, auf den Urlaub bei deinem Großvater?«, fragte Rebecca nach dem Abendessen, als sie mit Sebastian alleine im Wohnzimmer war.

»Ja, sehr, Mutter. Großvater hat immer schöne Geschichten zu erzählen, und manchmal liest er aus einem alten Buch vor.«

»Ich freue mich für dich und deine Freunde«, sie nickte zufrieden, »wirklich, Sebastian.« Sebastian sah zu ihr auf. »Ich hatte leider nicht so einen netten Großvater wie du, Sebastian.«

»Das tut mir leid, Mutter.«

»Mir auch.«

»Ich gehe nach oben in mein Zimmer und packe meine Tasche.«

»Soll ich dir helfen?«

»Nein, das kann ich schon alleine, Mutter.«

»So langsam wirst du erwachsen«, lächelte sie.

»Ja, Mutter«, sagte Sebastian stolz und rannte die Treppe hinauf, in sein Zimmer.

Sebastian flitzte hin und her, schnappte sich T-Shirts, Jeans, Socken, Unterhosen und warf sie auf das Bett. Dann öffnete er eine Schublade, holte eine Taschenlampe und Batterien heraus, die neben seinen Jeans auf dem Bett landeten. Er holte dies und das noch aus dem Schrank und den Schubladen, und im Nu hatte er statt einer Reisetasche zwei gepackt. Endlich war er fertig und setzte sich ans Fenster, sah hinaus in eine sternenklare Nacht. Sebastian überlegte, mit welchen Fantasy-Rollenspielen sie sich bei Großvater Joe die Zeit vertreiben sollten, und plötzlich überkam ihn der absurde Gedanke, ob nicht doch ein Fünkchen Wahrheit an all den vielen Geschichten lag, die es über Elfen, Zauberer, Drachen, Trolle, Hexen und Feen gab.

Als er einen leuchtenden Stern beobachtete, stellte er sich die Frage, ob es wohl dort oben, irgendwo auf einem Planeten, auch jemanden gab, der jetzt wie er zum Fenster hinausblickte, sich den Himmel betrachtete und sich die gleichen Gedanken machte.

Sebastian wurde langsam müde. Seine Augenlider fühlten sich schwer an, und er beschloss ins Bett zugehen, doch zuvor warf er noch einen kurzen Blick hinauf zu den Sternen und machte ganz große Augen, als er eine Sternschnuppe mit einem leuchtenden Schweif am Himmel vorüberziehen sah. Sebastian presste die Lippen zusammen und wünschte sich mit seinen Freunden ein aufregendes Abenteuer in den Sommerferien zu erleben.

Als Sebastian im Bett lag dauerte es nicht lange, bis er einschlief. Ein mysteriöser Traum begleitete ihn in dieser Nacht.

 

***

 

Sebastian schwebte durch die Luft, nirgends war etwas zu erkennen, rings um ihn herum befand sich das absolut Nichts, das hell und freundlich strahlte. Die Reise, die er begonnen hatte, schien endlos zu sein. Sie bereitete ihm einen höllischen Spaß. Plötzlich tauchte in der Ferne eine kleine Stadt auf, er flog über Dächer hinweg und bewegte sich auf eine mächtige Erle zu, die mitten in einem Park stand. Bunte Luftballons stiegen empor und flogen an ihm vorbei. Plötzlich verschwanden die Luftballons, ebenso der Baum und der Park. Dann verschwanden auch die Häuser, und Sebastian war wieder allein. Eine bunte Wiese entstand unter ihm, auf der Sebastian landete. Er sprang fröhlich umher, als plötzlich ein harmonischer Chorgesang an seine Ohren drang.

 

»Kaspar, Kaspar nun wird es Zeit,

ein Abenteuer steht für dich bereit.

Die Lösung naht, sie ist nicht fern,

Kaspar, Kaspar dein Großvater hat dich gern.

Reise mit ihm durch die ganze Welt,

zu jedem Ort der euch gefällt,

aber morgen reist du in die Andere-Welt.«

 

Sebastian schüttelte den Kopf.

»Nein, ich fahre morgen zu meinem Großvater«, sagte er, »und außerdem heiße ich Sebastian.«

»Das wissen wir«, drang eine zarte, weibliche Stimme zu ihm vor. »Dein Name ist Sebastian Kaspar Addams, der neue ...«

»Ach, lass mich in Ruhe«, unterbrach Sebastian und winkte ab. »Ich will die Luftballons noch einmal sehen.«

»Kaspar, komm zu uns ...«

»Ach, hör auf damit! Mein Name ist Sebastian«, murrte er.

»Du bist Sebastian, das ist uns klar. Aber auch Kaspar heißt du, ja, das ist wahr«, flüsterte die Stimme.

Plötzlich verschwand die Stimme, und Sebastian befand sich mit einem Mal in einer Halle, die menschenleer war, bis auf eine geheimnisvolle Gestalt, die einen braunen Umhang trug und bewegungslos wie eine Steinfigur auf einer Empore stand. Die Gestalt lebte, denn sie bewegte die Finger der rechten Hand und sie schien zu warten, denn sie hatte ihre leuchtend giftgrünen Augen auf die große, hölzerne Pforte am anderen Ende des Raumes gerichtet – Sebastian rätselte wer oder was, ob früher oder später, durch die Pforte schreiten würde.

Sebastian ging auf die Empore zu, sein Blick war starr auf die fremde Gestalt gerichtet. »Wer bist du?«, fragte Sebastian schließlich, doch die Gestalt blieb stumm.

Der Lichtschein der Fackeln, die in Höhe der Empore an den Wänden brannten, verlieh der mysteriösen Gestalt zusätzlich ein unheimliches Aussehen.

Die große Pforte schwang nach innen auf, und ein stattlicher Mann mit einer goldenen Krone auf dem Haupt, die mit unendlich vielen Edelsteinen verziert war, betrat den Raum – es war ein König, wie Sebastian vermutete.

Sebastian schluckte. Seine Kehle wurde staubtrocken. Was soll ich jetzt ..., bevor Sebastian den Gedanken zu Ende fassen konnte, löste sich die unheimliche Gestalt auf der Empore in Luft auf und erschien direkt neben Sebastian. Sebastian suchte nach einer Ausrede, um der Gestalt zu sagen, was er hier zu suchen hatte. Doch die Gestalt nahm keine Notiz von ihm – sie schien ihn gar nicht zu bemerken, so wie auch der König, der jetzt vor der Gestalt stand und sie mit den Worten, »Ich freue mich dich zu sehen, Zauberer«, begrüßte.

»Ich bin gekommen, so wie Ihr es mir befohlen habt, mein König.«

Der König schwang ein unterarmgroßes Zepter, das mit einem goldenen Knauf versehen war. Der Zauberer schien sich davor zu fürchten, denn er wich einige Schritte zurück.

»Was hast du, Acaton?« Sebastian sah, wie der König seine Macht genoss. »Angst vor meinem Zepter?«, fragte er mit einem hämischen Grinsen. »Komm mit mir, Acaton!« Der König senkte das Zepter und vollführte mit der Hand eine Geste. »Wenn du tust, was ich von dir verlange, Acaton, wird dir nichts geschehen!«

Acaton nickte kaum merklich, und seine Augen funkelten zornig. Der König wandte sich der Pforte zu, und Acaton folgte ihm wortlos.

»Ich habe ein großes Problem, Acaton, mit den neuen Siedlern, die mein Land wie eine große Flut überschwemmen, dafür brauche ich deine Hilfe. Solltest du dich nochmals weigern und verschwinden, wird dir das nichts nützen, Acaton. Ich werde dich überall finden und dann werde ich dich töten.«

Eine beunruhigende Stille trat ein, als der König und der Zauberer die Pforte durchschritten. Sebastian folgte ihnen – neugierig zu erfahren, was der König dem Zauberer befehlen würde.

»Ich werde keine Truppen gegen die Siedler anführen können«, erklärte der König, »das würde bei meinem Volk und bei den Königen meiner Nachbarländer nicht gut ankommen. Um meinen Plan zu verwirklichen, brauche ich dich, Acaton.«

Seufzend folgte der Zauberer dem König. Sie schritten einen prunkvollen Flur entlang. Während Sebastian dem König und dem Zauberer folgte, betrachtete er die wundervollen Gemälde – etliche Porträts und Landschaftsbilder schmückten die weiß gekalkten Wände. Sebastian berührte eine mannshohe Marmorsäule, auf der eine goldene Öllampe brannte. Dutzende dieser Säulen standen rechts und links entlang des Flures verteilt.

»Ich habe befürchtet, dass Ihr etwas Schlimmes von mir verlangen würdet«, jammerte Acaton.

Sebastian trat schnell an Acatons Seite und wartete gespannt darauf, was der König dem Zauberer befehlen würde. Der Traum wirkte so real auf Sebastian, dass er für einen Augenblick zweifelte, ob es überhaupt noch ein Traum war.

Der König blieb stehen und sah dem Zauberer direkt in die giftgrünen Augen. »Die Siedler sind meine Feinde. Sie besetzen mein Land und bringen eine Kultur hierher, die ich in meinem Königreich nicht dulden werde!«

»Was für ein fieser Mensch«, fluchte Sebastian und hielt sich die Hand vor den Mund, als Acaton sich ihm zuwandte.

»Was hast du, Acaton?«, fragte der König.

»Verzeiht mir, mein König, ich dachte, ich hätte etwas gehört.« Sebastian blickte direkt in Acatons giftgrüne Augen. »Aber ich glaube, ich habe mich geirrt, mein König«, sagte Acaton und wandte sich dem König zu.

Doch Sebastian kam es so vor, als hätte der Zauberer ihn gehört und den König angelogen. Acaton sprach gelassen und mit aller Höflichkeit weiter: »Was verlangt ihr von mir, mein König?«

»Die Siedler müssen vertrieben werden ...« Acaton lauschte, als er dem König in das finstere Gesicht blickte. »... ich habe heute einen Siedler bestraft, der es gewagt hatte, königliches Vieh von der Weide zu stehlen.«

»Ich habe gehört, dass der junge Mann das Tier erworben hatte«, sagte Acaton.

»So, hast du das, Zauberer?« Der König blieb stehen. »Wer hat dir das erzählt?«, wollte der König sofort wissen.

»Ich habe es auf dem Marktplatz gehört.«

»So, so, auf dem Marktplatz«, erwiderte der König, »dort wird viel Tratsch verbreitet ...«, winkte der König ab. »Der Siedler leugnete stundenlang trotz großer Qualen, die der Folterer ihm angetan hatte. Er bettelte um Gnade und um sein Leben – doch der Folterer stieß ihm letztendlich ein glühendes Eisen in sein gottloses Siedlerherz. Er war ein Dieb, Acaton ...«

Der König wirkte sichtlich zufrieden.

»... und ein Dieb muss bestraft werden, so will es das Gesetz!«

Acaton schwieg sichtlich entsetzt, über die grausame Tat, die der König angeordnet hatte.

»Ich könnte dem Folterer befehlen, dir ...«

Der König vollführte eine Geste mit der linken Hand und wollte gerade weitersprechen, doch Acaton kam ihm zuvor: »Ich fürchte die Folter nicht. Also, macht mit mir, was Ihr ...«

»Aber, das hier fürchtest du, nicht wahr, Acaton?« Der König hielt Acaton das königliche Zepter unter die Nase. »Du bist so schweigsam. Was hast du, Acaton?« Der König senkte das Zepter. »Angst?«, fragte er.

»So mutige Worte von jemand, der doch so verletzlich zu sein scheint«, höhnte der König. »Acaton, du weißt, dass ich viele verschiedene Arten der Folter kenne, und eine ist bestimmt darunter, die du gewiss nicht ertragen würdest.«

Acaton senkte den Blick und verzog die Mundwinkel.

Der König richtete sich kerzengerade auf und ein grausames Lächeln umspielte seine schmalen Lippen.

»Ich denke, dies wird der geeignete Anreiz sein, um deinen Gehorsam zu erzwingen, Acaton.« Der König wandte sich einer Tür zu und zog sie an einem Metallring auf. Sebastian glaubte in der bösartig, schneidenden Stimme des Königs zu hören, dass ihm ein Menschenleben völlig bedeutungslos war.

Acaton erbleichte, als die Tür aufschwang und eine junge Frau mitten in der Halle kniete.

»Manju«, flüsterte Acaton entsetzt.

Sie war in Begleitung eines einzigen Wachsoldaten, der sie an den Handfesseln gepackt hielt.

»In deinen Augen lese ich, dass du mir den Tod wünschst, Zauberer«, lachte der König, »das ist gut so.«

Der König trat einen Schritt auf Acaton zu.

Sebastian sah, wie eine einzige Träne über die Wange der jungen Frau rollte, als sie in Richtung Acaton blickte.

»Tut Ihr nicht weh, mein König«, sagte Acaton und schüttelte ungläubig den Kopf, und zum ersten Mal glaubte Sebastian, ein leichtes Zittern in der Stimme des Zauberers zu hören. »Bitte, tut ihr nicht weh, mein König«, wiederholte er.

»Also wirklich, Acaton«, höhnte der König. »Warum sollte ich so einem wunderschönen Geschöpf weh tun wollen?«

Ein bösartiges Lächeln lag auf dem Gesicht des Königs.

»Wenn ihr das tut, was ich von euch verlange, Acaton, wird niemandem etwas geschehen«, sagte der König, »dir nicht«, der König deutete auf Manju, »und auch ihr nicht.«

Acaton gab sich geschlagen. Der König hatte ihn jetzt endgültig in der Hand.

»Sie ist so etwas wie eine Tochter für dich, nicht wahr, Acaton?«, belächelte der König den Zauberer.

Acaton nickte.

»Ja«, sagte er mit gesenktem Blick.

»Gut«, erwiderte der König, »löse ihre Fesseln mit einem Messer«, befahl er dem Wachsoldaten.

Sebastian sah, wie Blut zwischen den Fingern der jungen Frau hervorquoll.

»Nein!«, schrie Acaton. »Ihr habt versprochen, ihr nichts anzutun!«, wandte er sich an den König.

»Habe ich das?«

»Ja, das habt ihr.«

»Dann können wir ja unseren Handel abschließen«, fuhr der König fort.

»Ich werde alles tun, was Ihr von mir verlangt.«

»Nein, nicht, Acaton!«, schrie Manju.

»Schweig, Weib!«, befahl der König.

»Nimm sie, Acaton, und geh«, sagte der König, »bevor ich es mir anders überlege und sie meinen Soldaten überlasse – als Abendvergnügen versteht sich.«

Schnell wandte sich Acaton Manju zu und griff ihre Hand.

»Falls Manju etwas geschehen sollte, mein König, ist unsere Abmachung wertlos, und weder Himmel noch Hölle werden mich dann dazu bringen, mich Eurem Befehl zu unterwerfen!«

»Geht jetzt!«, befahl der König mit finsterem Blick. Er legte eine Pause ein und erwartete eine Erwiderung, doch Acaton blieb schweigsam.

Der König vollführte eine Geste mit dem Zepter und verließ geschwind die Halle – zurück blieb Acaton mit Manju und der Wachsoldat, der sagte: »Es tut mir leid, Mädchen, aber der König hat mir befohlen dich ...« Der Wachsoldat senkte den Blick, schüttelte stumm den Kopf und verließ bedrückt den Raum.

Acaton streckte einen Arm in Sebastians Richtung, während seine Worte flehend klangen: »Du willst dich mir nicht zeigen ...«

»Mit wem redest du, Acaton«, unterbrach Manju.

»Ich weiß es nicht«, begann Acaton an Manju gewandt, »ich kann dich zwar nicht sehen, Fremder«, wandte sich Acaton Sebastian zu, »aber ich kann dich hören.«

Acaton legte eine kurze Pause ein.

»Du scheinst mir ein mächtiger Zauberer zu sein, Fremder. Ich werde Schlimmes für den König tun müssen, wie du sicherlich gehört hast – ich kann nicht mehr von meinem Versprechen dem König gegenüber zurücktreten«, seufzte Acaton. »Du musst mir etwas versprechen, Fremder!«

Das Licht der späten Nachmittagssonne fiel durch die südlichen Fenster ein und überzog den Saal mit einem zarten Schimmer.

»Wie kann ich dir helfen?«, fragte Sebastian, der jetzt nicht mehr zwischen Traum oder Wirklichkeit unterscheiden konnte.

»Ja, ich kann dich hören, Fremder. Du stehst genau vor mir«, nickte Acaton.

»Ich kann nichts hören, Acaton«, sagte Manju. »Wer ist hier?«, wollte sie wissen und klammerte sich ängstlich an Acaton.

»Er hört sich noch jung an.« Acaton sprach einen Zauber aus. »Schade«, sagte er. »Ich hatte gehofft, dich so sichtbar zu machen, Fremder.«

»Willst du nicht von uns gesehen werden?«, fragte Manju mit ängstlicher Stimme.

»Ich weiß nicht, wie ich das machen soll«, gab Sebastian zu.

Sebastian sah in Manjus sanfte, braune Augen und bemerkte, wie ängstlich sie in seine Richtung blickten.

»Sag ihr, dass sie keine Angst vor mir zu haben braucht«, wandte sich Sebastian Acaton zu.

»Du kannst mich loslassen, Manju«, sagte Acaton, »der Fremde wird uns nichts antun.«

»Ich heiße Sebastian.«

Acaton lächelte. »Wie alt bist du, Sebastian?«

Sebastian zögerte, doch dann sagte er: »Zwölf.«

»Zwölf Jahrhunderte?«, fragte Acaton.

»Nein, zwölf Jahre«, sagte Sebastian lächelnd.

Acaton zuckte mit den Schultern. »Zwölf Jahre?« Seine Stimme klang erstaunt.

»Ja«, sagte Sebastian.

»Dann hast du eine ganz besondere Gabe, Sebastian«, sagte Acaton, »und ich hoffe, du kannst mir helfen, wenn ich scheitern sollte.«

»Wobei soll ich dir helfen?« Sebastian horchte.

»Wenn ich den Zauber, den ich bei den neuen Siedlern anwenden werde, nicht mehr rückgängig machen kann, dann musst du ihn auflösen.«

»Welchen Zauber und wie soll ich das machen?«

»Es ist so, wenn ...«

Als sich eine Tür öffnete, wandten Sebastian, Acaton und Manju sich gleichzeitig um und sahen den König kommen.

»Ihr seid noch hier, Zauberer?«, rief der König erstaunt.

Sebastian konnte in Acatons Gesicht Nervosität erkennen. Seine Gelassenheit, mit der er sich eben mit ihm unterhalten hatte, löste sich mit einem Mal auf.

Auf ein Kopfnicken des Königs hin stießen zwei Palastwachen die schwere Doppeltür auf.

»Der Folterer«, hauchte Manju, und ein schmächtiger Mann mit schlanken Händen und wässrigen Augen trat über die Schwelle. Sebastian wunderte sich, dass solch ein Kerlchen jemanden foltern konnte er sah so zerbrechlich aus.

Sebastian sah, wie Manjus Hände zitterten und sie verzweifelt versuchte, sie unter Kontrolle zu bringen.

»Keine Angst, Mädchen«, sagte der König. »Wir sind hier, um einen Siedler zu verhören«, der König kam einige Schritte näher, »aber ihr solltet längst fort sein!«

Acaton schnappte sich Manjus Hand und zog sie hinter sich her. Schnell verließ Acaton mit ihr den Saal, ohne sich nach Sebastian umzudrehen.

»Du wirst deine gerechte Strafe erhalten ...«, fauchte Sebastian und ging furchtlos auf den König zu und wünschte sich innig, dass der König seine Worte mitbekam, »... und ich hoffe, dass die Strafe für dich nicht zu mild ausfallen wird, du fieser König.«

»Habt ihr das auch gehört?«, fragte der König und wandte sich den Palastwachen zu, die mit den Köpfen schüttelten. »Wer hat das gesagt?«, fragte der König verwirrt.

 

 

 

Ende der Leseprobe