Andor - Rätsel der Vergangenheit


Nach einem Unfall hat der Redakteur Bill Clayton sein Gedächtnis verloren. Auf der Suche nach seiner wahren Vergangenheit tauchen stets neue Rätsel auf. Dabei gerät er immer tiefer in ein Netz mysteriöser Ereignisse. Der Geheimdienst beschattet ihn, und ein Fremder will ihn töten. Seine Recherchen führen ihn nach München, wo er seiner Bestimmung folgen und den Kampf gegen außerirdische Mächte aufnehmen muss.

 


In Liebe meiner Frau Ursula.

Das Leben ist ein großes Abenteuer,

Danke, dass ich es mit dir erleben darf.


Inhalt

Prolog 9 (LESEPROBE)

 

1 Morgenstund hat Gold im Mund 23 (LESEPROBE)

2 Der erste Kontakt 41

3 Dem Tod ins Auge schauen 60

4 Spieglein, Spieglein an der Wand 70

5 Feindkontakt 88

6 Noch mehr Rätsel knacken 103

7 Was ist in dem Aktenkoffer? 118

8 Schließfach 418 140

9 Ein wirklicher Arsch mit Ohren 149

10 Nur nicht verzweifeln 160

11 Gott macht gerade ein Nickerchen 165

12 Jetzt bist du tot 173

13 Wer hätte das gedacht? 183

14 Schnell noch auf das Klo 193

15 Wir lassen die Sau raus 208

16 Möge Gott die armen Teufel beschützen 225

 

Personen-, Orts-, und Sachverzeichnis 237

Danksagung 241

 

 


Prolog

 

Die Gedanken an seine unerfüllte Aufgabe machten ihn wütend. Er stöhnte leise. Es war der letzte Versuch am Leben zu bleiben, den grellen Schmerz aus seinem Körper zu vertreiben. Eisige Kälte hüllte ihn ein. Seine Hände krallten sich in den staubigen Boden.

Eine Detonation folgte.

Jemand rief seinen Namen.

Erinnerungen zogen langsam an ihm vorbei, wie das Flusswasser an einem seichten Ufer. Die Dunkelheit hielt ihn umfangen. In seiner Brust loderte das Feuer des Todes – Höllenfeuer.

»Sterne werden geboren, um die Dunkelheit zu erhellen. Für jeden von uns gibt es einen Stern dort oben«, die Worte seiner Mutter hallten in seinem Kopf wider.

War er dem Tode denn schon so nahe, dass die Verstorbenen zu ihm sprachen?

Auf einmal lag er neben seiner Mutter im Bett, die ihm eine magische Geschichte erzählte, wie sie es früher immer getan hatte. Er kuschelte sich tief in das Kissen und lauschte ihrer ruhigen Stimme.

»Wo ist mein Stern, Mutter?«, fragte er.

Sie deutete zum Fenster hinaus. Der Himmel war wolkenlos.

Mit beiden Daumen und Zeigefingern bildete sie ein Dreieck und sagte ruhig: »Wenn du hier hindurchschaust, dann kannst du ihn sehen.«

Er lächelte überglücklich und spürte noch, wie ihre Hand über seine Wange strich und ihre Lippen seine Stirn küssten.

Sie stand auf und ging.

»Warte, Mutter«, sagte er.

Sie blieb stehen und wandte sich ihm zu.

Dann schlief er ein.

Jemand rief wieder seinen Namen.

Erinnerungen an die Momente vor der ersten Detonation zogen an ihm vorbei.

Auf einmal lief er über staubige Erde, rannte durch Pfützen und Matsch, bevor er seine Kameraden erreichte. Doch es war vergebens – alle waren tot. Dann trat ihm eine Bestie entgegen – sein Feind. Ihm blieb nicht viel Zeit, um dem Angriff auszuweichen. Er setzte alles auf eine Karte, hechtete zur Seite und flog dabei flach durch die Luft. Hart prallte er zu Boden, nahm noch einmal Schwung und rollte sich über die Schulter ab und schoss nach oben. Als er fliehen wollte, versperrte der Feind ihm den Weg. Sein Gegner war schnell und griff mit seinen Klauen nach ihm. Es waren keine Hände sondern Krallen, scharf wie Messer, die sich in seinem Körper vergruben und einen tosenden Schmerz durch ihn hindurch jagten. Der Feind drohte ihm sein Herz aus dem Körper zu reißen. Für ein paar Augenblicke hielt er den Atem an. Etwas stieß heiß vom Magen her hoch in seine Kehle. Der Feind war eine Ausgeburt der Hölle. Ein widerliches Wesen mit einem eiskalten Augenpaar. Er atmete hastig aus.

Eine große Detonation folgte, die den Boden erschüttern ließ.

Die Krallen verschwanden aus seinem Körper. Vorerst wollte das Schicksal, dass er am Leben blieb.

Jemand rief wieder seinen Namen.

Wer rief nach ihm? Er überlegte. Wem gehörte bloß diese Stimme?

Er schloss die Augen, und auf einmal stand er auf der Treppe in seinem Elternhaus und konnte die Stimmen seiner Eltern im Wohnzimmer hören.

»Was ist bloß in euch gefahren?«, sagte sein Vater. »In letzter Zeit lösen Kleinigkeiten immer einen großen Streit zwischen euch aus.«

»Ich hatte doch gar nicht gestritten«, sagte seine Mutter und seufzte tief. »Ich hatte mir nur Sorgen um sie gemacht. Sie ist ...«, ergänzte sie und schwieg, als Vater lachte.

»Was findest du denn so komisch daran?«, fragte sie verärgert, und ihre Stimme schwoll von Wort zu Wort an. »Was?«, brüllte sie.

»Ach, nichts«, sagte er leise. »Entschuldige.«

Einen Moment herrschte eine unheimliche Stille. Vermutlich war die heftige Diskussion zwischen seinen Eltern wegen seiner Schwester ausgebrochen, die in letzter Zeit allerlei absurde Einfälle hatte.

»Sie ist so ... so ein Hitzkopf! Sie muss immer unbedingt ihren Willen durchsetzen. Sie ... sie ist doch noch ein Kind!«, fing seine Mutter an.

Vater lachte wieder, aber dieses Mal war es sein liebevolles, tiefes Lachen.

Wieder trat ein Schweigen ein, doch Vater unterbrach es: »Tja, auch wenn du mir jetzt böse bist und nicht gerne hörst, was ich dir jetzt sage – das hat sie von dir. Ihr beide seid euch ähnlicher, als ihr zugeben wollt.«

»Aber ich will sie doch nur beschützen«, sagte seine Mutter.

»Ich weiß«, sagte sein Vater, »aber aus dem Kind wird eine junge Frau, und du kannst sie nicht vor allem bewahren.«

»Sag bloß, du bist damit einverstanden?«

»Nein«, antwortete sein Vater kurz, »das bin ich auf keinen Fall«, ergänzte er, »aber wir sollten ihre Entscheidung respektieren.«

Er schlich die Treppe ganz hinunter. Es ging um seine Schwester, da gab es keinerlei Zweifel mehr. Was wollte sie denn dieses Mal? Surfen auf Mond 4? Tauchen in den Eisseen von Nemdos? Oder ... Er lauschte gespannt.

»Sie ist kein Kind mehr«, betonte sein Vater. »Sie ist volljährig«, ergänzte er.

Seine Mutter sagte nichts. Zu seiner Überraschung schwieg sie eine ganze Weile. Hatte seine Schwester vielleicht einen Geliebten? Traf sie sich heimlich mit ihm, und Mutter hatte es herausgefunden? Er kicherte.

Als seine Mutter wieder zu sprechen anfing, klang ihre Stimme zittrig. Es hörte sich an, als wäre sie den Tränen nahe.

»Dafür ist sie noch zu jung«, sagte seine Mutter.

»Und, was wäre das richtige Alter dafür?«, fragte sein Vater.

»Warum kann sie nicht das tun, was andere in ihrem Alter auch so tun?«, sagte sie leise.

»Und das wäre?«, fragte sein Vater.

Es trat eine unbehagliche Stille ein.

»Warum hat sie keinen Freund?«, unterbrach seine Mutter das Schweigen. »Dann käme sie auf andere Gedanken ...«

»Die würden dir bestimmt auch nicht gefallen«, fuhr sein Vater ihr ins Wort.

»Damit könnte ich leben«, sagte seine Mutter leise.

»Warum nur will sie ...«, seine Mutter atmete tief durch, »... an der Waffe und im Nahkampf ausgebildet werden?«

Vater schwieg.

»Warum?«, fragte sie noch einmal.

»Das kann ich dir nicht beantworten«, sagte sein Vater.

»Es gibt so viele schöne Dinge, die sie tun könnte«, flüsterte seine Mutter. »Warum will sie unbedingt mit einer Waffe ...« Sie schwieg.

»Sie hat sich das in den Kopf gesetzt«, sagte sein Vater.

»Ja, das hat sie.«

»Entweder wir respektieren ihre Entscheidung ...«

»Oder?«, hauchte seine Mutter.

»... sie wird es trotzdem tun.«

»Komm her«, sagte sein Vater mit ruhiger Stimme. »Lass dich umarmen.«

Seine Schwester war wirklich ganz schön schräg drauf. Warum wollte sie denn unbedingt an der Waffe ausgebildet werden? Er verstand es auch nicht. Ihm wurde kalt. Er schüttelte sich. Dann schlug er die Augen auf.

Verdammt! Er hätte gerne noch etwas weiter geträumt.

Er hob den Kopf und lauschte. Eine Grabesstille umgab ihn. Er stellte fest, dass er auf staubigem Boden lag und schwer verletzt war. Als er die Wunde in seiner Brust und die blutigen Beine sah, kamen die Erinnerungen wieder.

Er sah sich um. Nebel zog rechts von ihm auf. Als er sich dem Nebel zuwandte, hatte er das Gefühl, die Hölle hätte ihre Pforten geöffnet, und im selben Augenblick traten Kreaturen aus dem Nebel heraus – seine Feinde.

Er war dem Tode näher als dem Leben, das wusste er, doch aufgeben wollte er um keinen Preis.

Was hatte sich der Wissenschaftler Reolan Leeonex dabei gedacht, als er die Dunkle Materie im Universum erforschte? Er wollte ihr Geheimnis lüften und brachte damit den Tod in unsere Welt. So manches Geheimnis, das im Universum verborgen war, sollte besser nie gelüftet werden.

Dem Wissenschaftler gelang es Dunkle Materie zu isolieren und für seine wissenschaftlichen Zwecke zu verwenden. Das Verständnis für die Entwicklung des Universums rückte näher. Er entdeckte, dass er mit der Dunklen Materie, unter Einsatz der geeigneten Technik, Raum und Zeit beeinflussen konnte. Reolan Leeonex wollte auf große Entdeckungsreise gehen und das Universum erforschen. Das war ihm gelungen. Aber zu welchem Preis?

Er hatte nicht darüber nachgedacht, dass einer kriegerischen Spezies diese Erfindung in die Hände fallen könnte. Nun hatte ihr Feind die Technik rasant weiterentwickelt und diesen verheerenden Krieg begonnen.

Seine Mission war noch nicht vollendet. Er musste das Tor zerstören, bevor seine und andere Welten noch weiter unter den Eroberern zu leiden hatten.

Er lebte.

Die Hölle hatte ihn wieder ausgespien.

Sein Wille war stark. Er musste unbedingt seine Mission beenden.

Der verdammte Krieg hatte ihm die Eltern und seine Brüder genommen, seine Schwester aber sollte nicht ums Leben kommen. Ein bitteres Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er den Sprengsatz in die Hand nahm.

Sein Ende hatte er sich stets anders vorgestellt. Er wollte mit dem Schwert in der Hand sterben, nicht zerfetzt von einer Bombe.

Die Kreaturen, die aus dem Nebel gekommen waren, hatten nicht bemerkt, dass er noch lebte. Sie waren alle an ihm vorbeigelaufen und verschwunden.

Wieder rief jemand seinen Namen, und dieses Mal erkannte er die Stimme seiner Schwester.

Er musste handeln und mobilisierte seine letzten Kräfte. Vergebens. Seine Beine machten ihm einen Strich durch die Rechnung. Er schloss wieder die Augen.

Nicht einschlafen!, befahl er sich im Stillen. Du musst es schaffen. Du musst es ...

Er atmete schwer aus und versuchte nochmals aufzustehen. Fast hätte er es geschafft. Aufgeben wollte er jedoch nicht.

Nein.

Niemals.

Der dritte Versuch folgte, und dieses Mal gelang es ihm. Seine Beine fühlten sich taub an, aber trotzdem konnte er gehen. Er taumelte, als wäre er betrunken. Doch sein eiserner Wille trieb ihn voran. Allmählich ließen die Taubheit in den Beinen und der Schmerz in seiner Brust nach. Seine schweren Wunden waren fast vollständig verheilt.

Als er den Rand eines riesigen Kraters erreichte, blieb er stehen. Das Gelände ringsherum war flach und kahl. Er ließ den Blick schweifen. In allen Richtungen sah er aufgewühlte Erde bis zum Horizont. Er bemerkte einen schmalen Pfad, der in den zerklüfteten Krater hineinführte und folgte ihm schnell. Ein riesiger Steinhaufen versperrte ihm plötzlich den Weg. Er kletterte zielstrebig über das Hindernis hinweg und folgte wieder dem schmalen Pfad. Als er die nächste Biegung passierte, blieb er stehen. Übelkeit stieg in ihm hoch, als er den entstellten Körper einer Soldatin sah. Für einen kurzen Augenblick hatte er gedacht, es wäre seine Schwester gewesen. Leblose Augen starrten ihn an. Lange Haare hingen wirr im schlammigen Gesicht der Leiche.

Er wusste, dass er sich beeilen sollte, doch er kniete sich neben der toten Frau nieder. Ein kurzes Gebet, dann schloss er ihre Augen und folgte wieder dem Pfad.

Er versuchte den Gedanken an die Tote aus seinem Kopf zu vertreiben, aber das schreckliche Bild der aufgeschlitzten Leiche ging ihm nicht aus dem Sinn. Auf seinen Armen bildete sich eine Gänsehaut. Er wollte erbitterte Rache nehmen. Er wollte jedem einzelnen seiner Feinde das Herz aus dem Körper reißen – mit seinen Händen. Er wollte dabei spüren, wie das Leben aus dem Körper des Feindes wich.

Er blieb wieder stehen, als er auf die Leiche eines Soldaten traf. Sein Brustkorb war völlig zerfetzt. Sein linker Arm war verdreht – vermutlich war seine Schulter gebrochen oder ausgekugelt. Vielleicht hatte er einen schnellen Tod gefunden. Ob er eine Frau und auch Kinder hatte ... eine Familie? Er atmete tief durch und folgte wieder dem schmalen Pfad.

Erneut begann er über einen Steinhaufen zu klettern. Fast wäre er abgerutscht, noch bevor er die Spitze erreicht hatte. Panik drohte in ihm aufzusteigen, als er beim Anstieg zwei Körper am Boden liegen sah. Doch als er näher kam, atmete er erleichtert auf – es waren seine Feinde. Beide hatten durchgeschnittene Kehlen. Ein Gebet wollte er nicht an sie verschwenden, also eilte er weiter.

Er war sich sicher, dass eine seiner Einheiten auch diesem Pfad gefolgt war. Wie ein Blitz traf ihn der Gedanke, dass sich seine Schwester ebenfalls bei dieser Einheit befinden konnte. Er vertiefte sich so sehr in diesen Gedanken, dass sein Atem schneller ging.

Natürlich musste seine Schwester hier irgendwo sein, denn eben noch hatte sie ja nach ihm gerufen. Nun war er fest davon überzeugt, dass sie mit einer Einheit auf der Suche nach ihm war.

Sollte er auch nach ihr rufen? Er schüttelte den Kopf, denn er wollte nicht die Aufmerksamkeit des Feindes auf sich ziehen. Er eilte also weiter den schmalen Pfad entlang, der vor einem offen stehenden Eisentor endete. Dies war ein Nebeneingang in die feindliche Basis. Hier hatte jemand ganz schön gewütet. Er zählte fünf tote Feinde. Sie waren ebenfalls auf grausame Weise ums Leben gekommen. Er atmete kräftig durch, dann betrat er die feindliche Basis.

»Willkommen im Vorhof zur Hölle«, flüsterte er.

Glück für ihn, dass keine Gegner mehr hier waren, um ihn aufzuhalten. Es war ihm bewusst, dass es ein Himmelfahrtskommando war, denn er musste den Sprengsatz an einer Stelle anbringen, von der aus er nicht genug Zeit hatte, um aus der Gefahrenzone zu fliehen.

Doch er musste es tun.

Der Weg führte ihn tief in die feindliche Basis hinein. Wie durch ein Wunder begegnete ihm kein Feind. Wo war seine Schwester? Ob sie auch hier in der Basis war? Er wollte wieder nach ihr rufen, aber der Feind hätte ihn hören können.

Kommunikationsmodul, schoss es ihm durch den Kopf. Warum hatte er nicht schon früher daran gedacht? Ob es wieder funktionierte?

Er hörte ein Geräusch und ging hinter einer grauen Tonne in Deckung. Dann liefen vier Feinde an ihm vorbei. Vermutlich wollten sie zu dem Tor, durch das er gekommen war. Er musste sich beeilen.

Als er das Kommunikationsmodul benutzen wollte, bemerkte er, dass es immer noch nicht funktionierte. Entweder hatte er hier in der Basis keinen Empfang, oder es war durch die Detonation beschädigt worden.

Er hastete eintönige Gänge entlang, die ihn immer tiefer in die feindliche Basis führten. Würde er es auch wieder hier hinausschaffen?

Wieder legte sich ein bitteres Lächeln auf seine Lippen, als er sein Ziel erreichte. Mit zitternden Händen platzierte er den Sprengsatz an der richtigen Stelle und aktivierte ihn. Dann starrte er gebannt auf die blinkenden Lämpchen. Der elektronische Zeitmesser lief. Er war sich sicher, das Richtige zu tun, denn durch dieses Tor könnten seine Feinde jeden Planeten im Universum erreichen und erobern.

Während er davonlief, um den rettenden Ausgang zu erreichen, knisterte das Kommunikationsmodul.

»Schwester«, hauchte er.

Niemand antwortete.

»Schwester«, rief er.

Das Kommunikationsmodul knisterte wieder.

»Ja«, antwortete eine Stimme.

Er war für einen Augenblick wie erstarrt, als er die Stimme seiner Schwester hörte.

»Bist du in der feindlichen Basis?«, fragte er hastig und verlangsamte sein Tempo.

»Wir stehen vor dem Eingang«, antwortete sie. »Wo bist du?«, fragte sie schnell.

»Ihr müsst sofort von hier verschwinden ...«, sagte er, und sie unterbrach ihn energisch: »Nicht ohne dich, Bruder.«

»Ich habe die Bombe platziert und aktiviert«, sagte er nur und beschleunigte wieder sein Tempo.

»Dann lass uns verschwinden, Bruder«, sagte sie.

»Es gibt da nur ein Problem«, fing er an.

»Ja«, hauchte sie.

»Ich habe keinen Fernauslöser mehr gehabt.«

Ein kurzes Schweigen trat ein.

»Du ... du ... Narr«, schimpfte sie. »Wie willst du vor der Detonation hier rauskommen?« Die Stimme seiner Schwester klang ärgerlich, dennoch lag eine gewisse Besorgnis in ihr.

»Ich beeile mich.«

»Ah, verdammt«, hörte er sie fluchen.

»Verschwindet von hier«, befahl er. »Ich schaffe es schon«, versprach er ihr fest.

»Nein!«

»Das ist ein Befehl!«, sagte er.

Keine Antwort.

Er runzelte die Stirn.

»Hast du gehört?«, fragte er.

»Ja«, hauchte sie.

»Los!«, befahl er energisch. »Ich bin auf dem Weg zu euch.«

»Lass mich nicht allein, Bruder«, ermahnte sie ihn mit Nachdruck.

»Werde ich nicht.«

Das Kommunikationsmodul knisterte abermals, und die Verbindung brach ab.

»Hallo«, sagte er. »Hallo«, wiederholte er, doch das Kommunikationsmodul blieb stumm.

Er floh, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her, obwohl er wusste, dass es zwecklos war. Er hatte gehofft, irgendwann einmal eine Familie zu gründen und Kinder zu haben.

Nun war es zu spät dafür.

Aus und vorbei.

Ihm klopfte das Herz bis zum Hals. Die feindliche Basis war schon furchterregend genug, aber wenn er an die Erfindung seiner Feinde dachte und daran, was sie damit anstellen konnten, war er bereit zu sterben, um dafür Abermillionen Leben zu retten. Das schien ihm ein fairer Preis zu sein. Doch als er wieder an seine Schwester dachte – er brach den Gedanken ab und horchte.

In dem Moment vernahm er, dass der Sprengsatz detonierte.

Ohne sein Tempo zu verlangsamen, versuchte er wieder über das Kommunikationsmodul, einen Kontakt zu seiner Schwester herzustellen. Das blöde Ding funktionierte immer noch nicht und knisterte nur. Er versuchte es wieder und wieder, aber ohne jeglichen Erfolg.

»Es tut mir leid«, hauchte er und blieb stehen. »Verzeih mir, Schwester.«

Das Beben unter ihm nahm von Moment zu Moment an Stärke zu. Ein Grollen stieg tief aus der Erde empor.

Er senkte den Kopf.

»Verzeih mir, Schwester«, sagte er wieder. »Mein Versprechen kann ich wohl nicht mehr einlösen.«

Ihm war bewusst, dass eine Flucht vor der Detonation völlig Aussichtslos war – er konnte den rettenden Ausgang nicht mehr erreichen.

Das Kommunikationsmodul knisterte noch einmal und schaltete sich dann endgültig ab.

Es war niemand da, der seinen Namen rief.

Er atmete ein letztes Mal kräftig ein.

SIEG!

Die Mission war erfolgreich.

Er schloss die Augen und machte sich bereit seinen Göttern entgegenzutreten.

Dann riss ihn eine Druckwelle von den Beinen. Schwindel erfasste ihn, während das implodierende Tor ihn in eine unendliche Dunkelheit hineinzog.

Er war für immer verloren!

 

 

 

 

Die Zeit ist nicht, was sie scheint.

Sie fließt nicht nur in eine Richtung,

und die Zukunft existiert gleichzeitig mit der Vergangenheit.

ALBERT EINSTEIN

 

 

 

 


Morgenstund hat Gold im Mund

 

1Es war nicht der schrille Wecker sondern das Brummen in meinem Kopf, das mich aus dem tiefen Schlaf riss und somit das Schicksalsrad in Bewegung setzte.

Ich wälzte mich noch einmal herum, in der Hoffnung doch noch etwas Schlaf zu finden. Fehlanzeige, denn plötzlich ertönte der Wecker und ließ mir keine Ruhe. Sollte ich das blöde Ding mit der Faust erschlagen und damit zum Schweigen bringen? Als ich an den neuen Nachttisch dachte, ließ ich von meinem Vorhaben ab und stellte den Wecker aus. Der schrille Ton erlosch, aber das Brummen in meinem Kopf war noch da.

Von wegen: Morgenstund hat Gold im Mund. Ich sollte in eine Zeitmaschine steigen und einen Tag weiter reisen. Aber leider hatte diese Dinger noch niemand erfunden. Woher kam bloß dieser verdammte Brummton? Ich horchte, konnte aber keine genaue Quelle ausmachen.

O Gott, dachte ich beklommen. Hoffentlich bin ich nicht ernsthaft krank.

Den Gedanken verwarf ich schnell wieder. Ich hatte in den letzten Monaten sehr viel gearbeitet, und das schien sich nun auf meine Gesundheit niederzuschlagen. Was mir fehlte war Urlaub – Sonne, Strand und Palmen.

Ich starrte zur Decke und berührte leicht mit den Fingerspitzen meine Schläfen. Schwindelig war es mir auch noch.

Langsam quälte ich mich aus dem Bett, gähnte kurz und ging in die Küche. Auch hier war das Brummen zu hören. Ich horchte wieder und versuchte die Quelle zu lokalisieren. Der Kühlschrank war es nicht und auch nicht der Gefrierschrank. Ob ich gestern Abend vergessen hatte, das Radio auszumachen? Als ich vor dem Radio stand, fuhr ich mir mit der Hand durch die Haare und überlegte, welches Gerät das Brummen verursachen konnte, denn das Radio war ausgeschaltet.

Verdammt, gestern hatte ich kein Bier angerührt. Trotzdem wurde ich von Kopfschmerzen geplagt. Als ich zum Fenster hinausblickte, hellte sich meine düstere Stimmung ein wenig auf. Der Himmel war klar, und es schien mir so, als ob es ein warmer, sonniger Junitag werden könnte. Danach warf ich einen flüchtigen Blick auf die Wanduhr.

Scheiße, warum ist es denn schon so spät?, dachte ich. Habe ich etwa den Wecker falsch gestelltScheiß Montag!

Ich atmete kurz durch. Warum rege ich mich bloß so auf? Mir geht es eigentlich ganz gut. Ich habe ein schönes Zuhause und eine Arbeit, die mir Spaß macht.

Ich eilte ins Bad und schaute in den Spiegel und dachte mir: Warum eigentlich diese Hektik? Ich rasierte mich in Ruhe. Plötzlich war das Brummen in meinem Kopf verschwunden. Keine Ahnung, was es gewesen war oder wodurch es ausgelöst wurde. Beim Duschen grübelte ich noch über diesen mysteriösen Ton nach.

So langsam kehrten meine Lebensgeister zu mir zurück. Ich schlenderte in die Küche, bereitete mir mit dem Kaffeeautomaten einen Cappuccino zu, nahm mir ein Sandwich aus dem Kühlschrank und stellte das Radio an. Eine sympathische Frauenstimme sagte, dass es heute ein sehr heißer Tag mit Temperaturen bis 30 Grad werden würde. Ich sollte besser ins Freibad gehen, aber das konnte ich mir abschminken, denn im Büro wartete genügend Arbeit auf mich. Ich lauschte der Musik. Die Radiosprecherin hatte A Glass of Champagne von den Sailors aufgelegt. Meine Arbeitskollegin Jennifer hörte dieses Lied gerne. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, von wann dieses Lied war, aber Jennifer hatte mal zu mir gesagt, dass dieser Song schon fast ein gefühltes Jahrhundert alt sein musste.

Als ich das Sandwich gierig in mich hineingestopft hatte, bereitete ich mir noch einen Cappuccino zu. Dieser Kaffeeautomat war perfekt – der Kaffee ein Genuss; ich wäre am liebsten noch ein Stündchen hier sitzen geblieben. Ich trank den Cappuccino und lauschte der Musik, als plötzlich das Telefon läutete. Warum ich mich erschrak und dabei den Cappuccino verschüttete, wusste ich nicht, aber ich tat es und das Resultat war nicht zu übersehen – meine Hose war mit Kaffeeflecken übersät.

Mist, verdammter Mist. Der Morgen fing richtig beschissen an. Während ich fluchte, nahm ich den Telefonhörer in die Hand und meldete mich mit meinem Namen.

»Clayton«, bellte ich, und im gleichen Moment tat es mir leid, dass ich so zornig war. Der Anrufer konnte ja eigentlich nichts für mein Missgeschick.

»Clayton«, sagte ich nun sanfter, aber niemand meldete sich.

Ich horchte.

»Hallo«, sagte ich.

Na ja, egal – ich legte auf.

Passiert ist passiert, dachte ich, als ich eine saubere Hose anzog. Anschließend ging ich zum Kühlschrank, griff mir die Milch und goss mir ein Glas ein. Ich wollte noch ein wenig in meinem Lieblingssessel abhängen, aber zunächst wischte ich den verschütteten Kaffee vom Boden auf.

Endlich saß ich in meinem Sessel und trank einen Schluck Milch. Als ich das Glas auf den Tisch abgestellt hatte, überkam mich eine Schwäche von einem Augenblick auf den anderen. Ich konnte nichts dagegen tun.

 

Ich hatte plötzlich das Gefühl, als wären mir die Beine unter dem Körper weggezogen worden. Panik kam in mir auf. Was war geschehen? Ich spürte, wie mein Atem hastiger wurde und mein Herzschlag sich beschleunigte. Wieder kam Panik in mir auf, als ich sah, wie die Wohnzimmerwände auf mich zukamen.

Was war hier los? Ich musste hier schleunigst weg. Doch als ich aufstehen wollte, regte sich kein Muskel in mir. Mein Körper fühlte sich plötzlich an wie steif gefroren.

Verflucht.

Verdammt.

Was sollte ich tun?

Um Hilfe schreien?

Meine Stimme versagte.

Die Wände schwankten heftiger, und mit einem Ruck fielen sie nach vorn, hielten an, verzerrten sich wie Schlangenlinien. Mein Herz raste, als ich sah, wie sich vor mir, in diesen verzerrten Wänden, ein unförmiger, menschenähnlicher Körper bildete. Es musste ein Traum sein. Ich musste eingeschlafen sein. Das war die einzige logische Erklärung für dieses Chaos. Ich nickte und sah, wie diese unförmige Kreatur ein Schwert hielt, mit dem sie nun zu einem gewaltigen Schlag ausholte.

Wenn das nun doch kein Traum ist, trete ich gleich meinem Schöpfer gegenüber, dachte ich und versuchte zu entkommen.

Vergebens, denn immer noch konnte ich mich keinen Zentimeter bewegen. Mir blieb keine Wahl – der Tod würde über mich kommen, und ich konnte nichts dagegen tun. Mein Atem ging nur stoßweise. Speichel rann mir aus dem rechten Mundwinkel. Ich spürte Hilflosigkeit – ich war meinem Gegner ausgeliefert.

»Deine Zeit ist um!«

Verquirlte Scheiße, jetzt sprach die Kreatur auch noch zu mir. Es war kein Traum – es war Realität, war ich nun überzeugt.

»Die Rache holt dich ein. Du kannst deinem Schicksal nicht entgehen«, fauchte die Kreatur mich an, und das Schwert flammte plötzlich auf und kam auf mich zu.

Ich schloss die Augen. Mir war plötzlich kalt geworden, und als ich die Augen wieder öffnete, stand ich auf einem Friedhof, inmitten trauernder Gäste. Der Wind blies über die Gruppe hinweg und brachte Schneeregen mit. Das blattlose Geäst der Bäume bewegte sich hin und her.

Mist, ich hatte meinen Regenschirm vergessen. Also flüchtete ich in die Leichenhalle, wo eine Trauerfeier stattfand. Ich nahm auf einem freien Stuhl in der letzten Reihe Platz und hörte dem Pfarrer zu. Ich bekam mit, dass es sich bei dem Toten um einen Mann handelte, der vor drei Tagen gestorben war. In der Kunstszene war er ein bekannter Maler gewesen.

Ich wandte mich nach links und nickte einem älteren Mann zu. »Hallo«, flüsterte ich verlegen. Beerdigungen waren nicht so mein Ding. Sie hatten so etwas Endgültiges an sich.

»Waren Sie ein Freund von Mr. Largo«, fragte der alte Mann.

»Largo?«

»Ja«, bestätigte er mir.

»Nein«, sagte ich verlegen und fragte mich im Stillen, was ich hier eigentlich machte. Warum war ich auf dieser Beerdigung? Wer war dieser Largo? Ich versuchte mich zu erinnern, aber diesen Namen hatte ich noch nie gehört.

»Ich kannte Mr. Largo nicht so gut«, ergänzte ich.

»Dann sind Sie ein Sammler?«, fragte der alte Mann neugierig.

Anscheinend schien ihn die Rede des Pfarrers nicht zu interessieren. Ich erinnerte mich, dass der Pfarrer eben erwähnt hatte, dass der Tote ein bekannter Maler gewesen war.

»Ja«, flüsterte ich und warf einen flüchtigen Blick nach vorne. Aber niemand schien es zu stören, dass ich mich mit dem alten Mann unterhielt.

»Er galt als eigenwilliger Maler«, sagte der alte Mann.

Ich nickte ihm zu, obwohl ich überhaupt nicht wusste, was für Bilder der Künstler erschaffen hatte.

»Seine Bilder zeigen eigentlich das, was die meisten Menschen nicht sehen wollen.«

»Ach ja«, sagte ich nur.

»Seine Motive zeigen das Grauen mit viel Feuer im Hintergrund.«

»Na ja«, sagte ich und zuckte mit den Schultern.

»Er malte seine düsteren Träume«, sagte der alte Mann und sah mich erwartungsvoll an. »Was denken Sie über Mr. Largo?«

Ich nickte nur. Was sollte ich ihm antworten? Ich kannte diesen Maler und seine Bilder nicht. Ich überlegte fieberhaft und suchte nach einer allgemeinen Antwort.

»Er ist zu früh gestorben«, lenkte ich ab. Woher zum Teufel wollte ich das wissen? Ich wusste ja noch nicht einmal, wie alt dieser Maler geworden war.

»Ja, leider«, sagte der alte Mann bedrückt.

Okay, mir fiel ein Stein vom Herzen. Dann war meine Aussage ja doch nicht so verkehrt gewesen.

»Sein Tod ist ein Rätsel«, flüsterte der alte Mann und kratzte sich dabei am Ohr.

»Ja, in der Tat«, hauchte ich.

»Niemand weiß, woran er gestorben ist«, sagte der alte Mann, und seine Stimme klang sehr geheimnisvoll.

Der Pfarrer räusperte sich. Ich wandte mich ihm zu. Hatten wir ihn mit unserem Gespräch unterbrochen? Doch der Pfarrer beachtete mich und den alten Mann mit keinem einzigen Blick.

»Flammentod«, sagte der alte Mann, und ich wandte mich ihm wieder zu. »So hieß sein letztes Bild«, erklärte er mir.

Ich erinnerte mich plötzlich wieder an das brennende Schwert, das auf mich zugekommen war. Ich stutzte und wandte mich dem Ausgang zu. Dann wandte ich mich dem Pfarrer zu, der von der hohen Menschlichkeit des Toten sprach. Was war geschehen? Warum war ich auf dieser blöden Beerdigung? Verquirlte Scheiße, jetzt erinnerte ich mich an die Kreatur, die mich mit einem brennenden Schwert töten wollte. Wo war sie abgeblieben? Träumte ich etwa immer noch?

»Haben Sie etwas?«, fragte der alte Mann und sah mich irritiert an.

»Nein«, antwortete ich.

Ich begriff nicht, was mit mir geschehen war. Ich konnte aufstehen und gehen, aber ich tat es nicht. Irgendetwas hielt mich hier fest. Eine unsichtbare, starke Macht. Oder war es das Schicksal, das mich gefangen hielt, dem ich nicht entfliehen konnte?

Mir fiel auf, dass es zunehmend muffiger roch. Ich vermutete, dass die nasse Kleidung der Anwesenden dafür verantwortlich war. Zudem kam auch noch ein süßlicher Geruch hinzu, der von irgendwelchen Pflanzen abgegeben wurde, die vor dem Sarg aufgestellt waren. Na ja, irgendwie passte der schwarze Sarg in diese bedrückende Atmosphäre hinein. Er war von acht brennenden Kerzen umgeben, die plötzlich stark flackerten. Vermutlich durch einen Luftzug. Aber woher kam dieser so plötzlich? Ich wandte mich kurz dem Ausgang zu. Die Tür war geschlossen.

Die Rede des Pfarrers schien kein Ende mehr zu nehmen. Worte wie Himmelreich, Paradies und ewiges Leben schallten über die Köpfe der Trauergäste hinweg, als der Pfarrer seine Stimme anschwellen ließ. Der Pfarrer verstummte. Gott im Himmel hab' Dank dafür. Doch meine Freude war nur von kurzer Dauer. Der Pfarrer blätterte in der Bibel und las ein Stück daraus vor.

Ich wandte mich dem alten Mann zu, in der Hoffnung, dass er mir etwas zu sagen hatte. Doch sein Blick war starr auf den Pfarrer gerichtet.

»Ob er wirklich tot ist?«, hörte ich die Stimme des alten Mannes, als ich mich von ihm abgewandt hatte.

»Wie?«, fragte ich verstört und blickte ihm direkt in die Augen.

»Der Sarg hat sich gerade ein Stück bewegt«, sagte der alte Mann.

»Ich glaube, das haben Sie ...«

»Das habe ich mir nicht eingebildet«, unterbrach er mich energisch.

Ich wandte mich dem Sarg zu, doch er rührte sich keinen Millimeter.

»Er bekämpfte die Monster, die unsere Welt bedrohen«, hörte ich den alten Mann sagen.

»Was für Monster?«, wandte ich mich ihm neugierig zu.

Mir ging das Monster durch den Kopf, das mich eben noch mit dem Schwert attackiert hatte und töten wollte.

»Grausame Kreaturen«, nickte er, »die unsere Welt bedrohen, ins Chaos stürzen und erobern wollen.«

Der alte Mann hatte wohl völlig den Verstand verloren. Ich hielt es für das Beste, seine Aussagen nicht weiter zu hinterfragen. Na ja, vielleicht hatte der Tod des Künstlers seinen Verstand ein wenig vernebelt.

Der alte Mann deutete auf den Sarg. »Es ist keine Einbildung von mir«, flüsterte er mir zu. »Er bewegt sich schon wieder.«

Und tatsächlich glaubte auch ich gesehen zu haben, dass sich der Sarg kurz bewegt hatte. Vielleicht war das Gestell auf dem er stand wackelig. Der Pfarrer verstummte und hob die Arme hoch. Er wollte den Toten noch einmal segnen. Und wieder fing der Pfarrer an zu reden. Es fielen die Worte Largo, Maler und Soldat.

»Soldat?«, stutzte ich.

»Ja«, sagte der alte Mann und nickte mir zu. »Er war ein guter Soldat. Doch leider hatte er eine gefährliche Mission zu erfüllen – ein Himmelfahrtskommando«, schüttelte er den Kopf. »Niemand hätte es für möglich gehalten, dass er diese Mission überleben würde.« Der alte Mann holte Luft. »Doch er hatte überlebt. Leider ist er nun tot.«

»Ich dachte er war Künstler – ein Maler.«

»Ja, das war er auch«, bestätigte der alte Mann mir, »aber er war auch ein Elitesoldat.«

Es gab einen lauten Knall, der mich regelrecht zusammenfahren ließ. Einige Trauergäste kreischten auf.

Verdammt!

Was war das?

Als ich mich dem Pfarrer zuwandte, sah ich, dass der Sarg zu Boden gefallen war. Da hatte das alte Gestell den schweren Sarg wohl doch nicht mehr verkraften können. Ein Glück, dass der Sarg ganz geblieben war. Schaurig, wenn er zerbrochen, der Tote aus ihm herausgefallen und über den Boden gerollt wäre.

Sollte ich nach vorne gehen und helfen, den Sarg wieder aufzustellen? Den Gedanken verwarf ich wieder, als zwei kräftige Sargträger kamen, um das Malheur wieder in Ordnung zu bringen.

»Und niemand weiß wirklich, woran Mr. Largo gestorben ist?«, wandte ich mich dem alten Mann zu.

»Niemand«, schüttelte er den Kopf.

»Eine Obduktion hätte das doch klären müssen«, stutzte ich erst jetzt.

»Es ist ja auch eine angeordnet worden, aber ...«

Ein erneuter Knall ließ mich wieder zusammenfahren. Hatten diese Idioten von Sargträgern etwa den Sarg fallen lassen? Wieder kreischten einige Trauergäste auf. Als ich mich dem Sarg zuwandte, lag das Ding schon wieder auf dem Boden. Ich sah die leichenblassen Gesichter der Sargträger und hörte, wie der Pfarrer zu Gott betete. Was war da vorne geschehen? Hatte sich der Sarg etwa schon wieder bewegt? Und hatten die Sargträger ihn deswegen fallen lassen? Ich hatte keinen Bock mehr auf Beerdigung, also beschloss ich die verdammte Leichenhalle zu verlassen. Sollten sie doch den verfluchten Maler ohne mich zu Grabe tragen. Ich hatte sowieso keinen Bezug zu ihm. Er war ein Fremder für mich, was nicht heißen soll, dass mir sein Tod egal war. Aber würde ich um jeden Menschen trauern, der an diesem Tag noch sterben würde, hätte ich keine Zeit mehr etwas anderes zu tun.

»Auf Wiedersehen«, sagte ich zu dem alten Mann und erhob mich langsam.

»Sie können doch jetzt nicht gehen.«

Und ob ich das kann, dachte ich.

»Ich habe noch einen Termin«, sagte ich beiläufig.

»Einen Termin?«, stutzte der alte Mann.

»Ja.«

»Nein«, schüttelte er den Kopf.

Was sollte das? Woher wollte er wissen, dass ich keinen Termin hatte?

»Der Sarg bewegt sich schon wieder«, sagte der alte Mann.

Das war mir im Augenblick wirklich scheißegal. Ich wollte nur weg von hier – schleunigst. Ich wollte gerade gehen und wandte mich noch einmal dem Sarg zu und sah, wie er regelrecht durchgeschüttelt wurde. Wieder kreischten einige Trauergäste auf.

Verdammtes Gekreische, dachte ich, als wenn das etwas an der Situation ändern würde.

Die Kraft, mit dem der Sarg bewegt wurde, schien aus dem Innern der Totenkiste zu kommen. Hatte der alte Mann etwa Recht und Mr. Largo war vielleicht doch noch am Leben? Mit einem lauten Knall flog der Sargdeckel empor und fiel auf den Pfarrer nieder. Die Trauergäste wurden wohl zu sehr überrascht. Niemand schrie mehr. Sie waren vor Angst wie gelähmt.

»Flammentod«, rief der alte Mann mir hinterher, als ich auf den Sarg zuging.

Ich verspürte einen Drang nach vorne zu gehen und mir den Toten anzusehen. Ich wollte wissen, ob er noch lebte.

Dann schlugen Flammen aus dem Sarg heraus und die Sargträger ergriffen die Flucht. Panik brach auch unter den Trauergästen aus. Sie eilten dem Ausgang entgegen. Das hätte ich auch tun sollen, aber meine Neugier überwog. Ich hatte den Sarg schon fast erreicht, konnte einen Körper sehen und auch die Flammen, die die Gestalt des Malers ergriffen hatten. Ich warf einen raschen Blick auf den Pfarrer. Er rührte sich nicht. Hoffentlich lebte er noch. Ich musste ihm helfen und ging auf ihn zu, um den verfluchten Sargdeckel von ihm zu nehmen, doch dann polterte es im Sarg, und er kippte zur Seite. Mir fuhr der Schreck in die Knochen, als der brennende Tote aus dem Sarg rollte. Mit dem Gesicht zu Boden blieb er liegen.

Ich warf einen hastigen Blick in die Trauerhalle. Alle Gäste bis auf den alten Mann waren verschwunden. Warum war er nicht mit den anderen hinausgelaufen?

Verflixt, das Feuer erfasste die Kränze und den Blumenschmuck. Auch ein Teil des Holzbodens hatte schon Feuer gefangen. Es würde nicht lange dauern, bis die ganze Trauerhalle in Flammen stand. Eine Feuerhölle aus dem es kein Entkommen mehr geben würde.

Egal, wie gefährlich es war, ich musste meine Angst bekämpfen und dem Pfarrer helfen. Ich versuchte den Sargdeckel anzuheben. Scheiße! War das Ding etwa aus Stein? Ich atmete ein und versuchte es noch einmal mit aller Kraft.

Geschafft.

Wie bekam ich den Pfarrer von hier fort?

»Zusammen geht's leichter«, hörte ich eine Stimme neben mir.

Als ich mich ihr zuwandte, sah ich den alten Mann mit einem gequältem Lächeln.

»Okay«, nickte ich ihm zu. »Wir nehmen den Pfarrer in die Mitte.«

»Gut«, sagte der alte Mann.

Als wir den Pfarrer gepackt hatten und gehen wollten, warf ich noch einen schnellen Blick auf den Maler, von dem bald nur noch ein Häufchen Asche zurückbleiben würde. Wir eilten mit dem Pfarrer in unserer Mitte dem Ausgang entgegen. Als wir die Tür erreicht hatten, wandte ich mich noch einmal dem Toten zu. Mir fuhr wieder der Schreck in die Knochen, denn der Tote lag nicht mehr auf dem Boden, sondern stand lichterloh brennend neben dem Sargdeckel.

»Das gibt's doch nicht.«

»Er lebt«, sagte der alte Mann. »Er ist nicht so leicht totzukriegen«, lächelte er mich an.

Langsam erlosch das Feuer, und ich war gespannt auf das Gesicht des Malers – falls es noch erkennbar war.

Doch noch bevor das Feuer ganz ausging, zerrte der alte Mann an dem Pfarrer. Ich hätte den Pfarrer loslassen können, doch ich hielt ihn fest und folgte durch die Tür.

»Bin gleich wieder da«, sagte ich zu dem alten Mann und wollte zurück in die Trauerhalle.

Wie konnte es sein, dass der Maler noch lebte? Selbst wenn er versehentlich lebendig in den Sarg gelegt worden war, hätte er durch das Feuer den Tod finden müssen. Mir gingen so viele Fragen durch den Kopf, dass ich erst einmal meine Gedanken ordnen musste. Wodurch ist das Feuer eigentlich ausgebrochen?, dachte ich, als plötzlich ein Telefon klingelte.

 

Ich sah auf einmal nur noch weiße Blitze vor den Augen. Ein Zittern durchfuhr meinen Körper, und mein Kopf fiel nach vorn. Jetzt fiel mir wieder ein, wie alles begann. Wie die Panik in mir aufkam, als ich sah, wie die Wohnzimmerwände auf mich zukamen. Die Kreatur, die auftauchte und mich mit einem Schwert töten wollte. Es war alles nur ein Traum gewesen. Ich fühlte die Erleichterung in mir. Meine Beine und Hände konnte ich auch wieder bewegen. Als ich den Kopf ruckartig hob, saß ich in meinem Sessel, und alles war wieder normal. Die Wände waren an ihrem Platz, und die Kreatur war verschwunden. Ich atmete erleichtert aus.

Es war alles nur ein Traum, sagte ich mir wieder vor.

Ich muss wohl kurz eingenickt sein, dachte ich und stand langsam auf.

Das Telefon läutete immer noch.

»Clayton«, meldete ich mich und versuchte dabei freundlich zu bleiben.

Schon wieder war niemand am Apparat, aber dieses Mal war die Leitung nicht tot. Am anderen Ende war jemand, denn ich hörte Hintergrundgeräusche und Straßenverkehr.

»Hallo«, sagte ich mit fester Stimme, aber niemand meldete sich.

Einen Augenblick wartete ich und wollte gerade auflegen, als mir ein schweres Atmen entgegenschlug, das in einem Röcheln endete. Wieder trat eine Stille ein, die aber nur von kurzer Dauer war. Das Atmen nahm zu. Es wurde lauter und dumpfer.

»Sehr witzig«, sagte ich und legte verärgert auf.

Das war ein außergewöhnlich beschissener Start in den Morgen. Was, wenn das heute so weitergehen würde? Was würde mich im Büro erwarten? Sollte ich mir freinehmen und den Tag im Bett verbringen? Als ich an den merkwürdigen Traum dachte, den ich soeben erlebt hatte, beschloss ich doch besser zur Arbeit zu fahren. Schlimmer konnte es ja wohl nicht mehr kommen.

Wie spät war es eigentlich? Ich warf einen hastigen Blick auf meine Armbanduhr. Mir fiel ein Stein vom Herzen – zehn Minuten war ich im Sessel eingenickt, mehr nicht. Ich nahm mir noch zwei Sandwichs aus dem Kühlschrank, die ich später auf der Arbeit bei einer Tasse Kaffee essen wollte.

So, jetzt noch schnell das Radio ausmachen, das Milchglas wegräumen und ... ich überlegte – Zähneputzen hatte ich vergessen.

Also eilte ich wieder ins Bad, bevor ich dann endlich das Haus verließ.

Ich nickte zufrieden, als ich in meinen neuen Jeep einstieg – Jimmy hatte ich ihn genannt. Ich ließ den Motor an und hatte mit einem Mal den ganzen Schlamassel vergessen, der mir an diesem Morgen zugestoßen war. Jimmy konnte Wunder bei mir bewirken, und eines dieser Wunder war, die ganze Scheiße, die in dieser Welt passierte, einfach für einen Moment aus meinem Bewusstsein auszublenden. Ich war Redakteur bei dem Londoner Zeitungsverlag Time News und wusste genau, wovon ich sprach.

Ich gab Gas und fuhr los.

Lange war ich noch nicht unterwegs, als ich auf die Bremse trat.

»Affenarsch«, fluchte ich laut. Fast hätte ein Bus meinen lieben Jimmy geplättet, als er von der rechten auf die linke Spur zog.

Der Bus sah klapprig aus. Ein Linienbus war es nicht. Er erinnerte mich an einen Bus, in dem ich vor ungefähr vier Jahren in Bolivien unterwegs gewesen war. Ich sollte damals eine Recherche über ein unbekanntes Flugobjekt machen. Das war sozusagen mein erster großer Auftrag, den ich von meiner neuen Firma erhalten hatte.

Wenn ich so darüber nachdachte, war das schon eine merkwürdige Reise gewesen. Mein Spanisch war miserabel, dennoch gelang es mir, mich irgendwie zu verständigen. Als ich damals in dem Bus gesessen hatte, kam es mir so vor, als würde jede verflixte Schraube und Niete klappern. Ich erinnerte mich noch an jede Einzelheit, wie ich neugierig durch das gesprungene Fenster des alten Busses blickte und eine atemberaubende Landschaft an mir vorüberzog: Mächtige Berge, grüne Täler und saftige Wiesen.

Jemand vor mir hupte und riss mich damit unsanft aus meinen Erinnerungen heraus.

Mist!

Der Wagen vor mir blieb stehen.

Ein Stau!

Da hatte ich wohl Zeit, mir noch über andere Dinge in meinem Leben Gedanken zu machen.

Es ging im Schritttempo weiter.

Durch den beschissenen Alptraum am frühen Morgen fühlte ich mich wie gerädert. Warum hatte ich von einer Beerdigung geträumt? Hoffentlich war es kein böses Omen. Ich musste wieder einen klaren Kopf bekommen.

Höllenkacke! Schnell trat ich auf die Bremse. Beinahe hätte ich eine rote Ampel übersehen. Mir geisterte der Maler im Kopf herum. Warum hatte ich von ihm geträumt? Der Name Largo war mir nicht bekannt. Hinter mir hupte jemand. Ich schaute auf die Ampel. Grün. Ich fuhr los.

Verdammt! Der Verkehr nahm zu. Ich kam so gut wie nicht mehr voran. Die Straße schien abgesperrt zu sein. Was war hier wieder los? Ein Unfall? Hätte ich doch einen anderen Weg gewählt. Ich schaltete das Navi ein und suchte nach einer alternativen Strecke. Der Verkehr rollte wieder an. Nun sah ich Polizisten, die den Verkehr regelten. Eine Umleitung war eingerichtet worden, die ich wohl oder übel nehmen musste.

Als ich gedankenversunken etwas langsamer fuhr und nicht sofort an den anfahrenden Verkehr aufschloss, hupte jemand hinter mir. Ich warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, wie ein Mann wild mit den Händen vor seinem Gesicht herumfuchtelte und vermutlich irgendwelche Schimpfwörter von sich gab.

Was regte der Vollidiot sich bloß so auf? Die paar Meter brachten ihn wohl auch nicht schneller ans Ziel. Ich blieb ruhig und beachtete ihn nicht weiter. Von mir aus konnte er soviel gestikulieren und herumbrüllen wie er wollte. Reagieren wollte ich auf diesen Anfall von Wahnsinn auf gar keinen Fall.

Nun sah ich dunkle Rauchwolken, die auf einen Großbrand hindeuteten. Wie ein böses Omen lagen sie in der Luft und schwebten in meine Richtung. Der Verkehr kam wieder ins Stocken. An der Sperre hielt ich mit geöffnetem Fenster an. Neben meinem Wagen stand ein Polizist.

»Entschuldigen Sie«, sprach ich ihn an. »Was ist denn hier passiert?«

Er wandte sich mir zu.

»In einem Supermarkt ist ein Feuer ausgebrochen«, antwortete er mir und wandte sich kurz von mir ab.

Das war heute absolut nicht mein Tag.

»Der Brand ist noch nicht unter Kontrolle«, wandte sich der Polizist mir wieder zu.

Eben hatte ich noch von einem Feuer geträumt. Ob es eine Vorahnung war?

»Gibt es Tote?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete der Polizist.

Dann hörte ich eine Detonation und bemerkte, dass der Polizist unruhig wurde. Wahrscheinlich überlegte er wie auch ich, was gerade geschehen war.

»Vielleicht ist ...«, fing ich an und brach ab, als eine zweite Detonation folgte.

Wäre ich doch nur im Bett geblieben. Scheiß Tag! Hoffentlich gab es dort keine Tankstelle, die Feuer gefangen hatte. Mal den Teufel nicht an die Wand, sagte ich mir im Stillen vor. Der Verkehr rollte wieder, und ich war froh, dass ich hier fortkam.

 

 

Ende der Leseprobe