Denny entdeckt Köln


Denny freut sich schon auf seinen zehnten Geburtstag, bis er von seiner Oma erfährt, dass er mit ausgelatschten Schuhen einen Gewaltmarsch bewältigen muss. Hinzu kommt noch, dass ihn Alpträume quälen, die darauf hindeuten, dass er womöglich ein Vampir sein könnte. Nachdem Denny von seiner Oma hört, dass sie ihm unterwegs etwas über die Kölner Legenden erzählen möchte, freut er sich allmählich auf seinen Geburtstag und vergisst für einen Moment, die Sache mit den Vampiren.


Dieses Buch ist meiner

Großmutter Katharina gewidmet,

von ganzem Herzen.


Inhalt

1 Was gibt's da zu tuscheln? 9  (LESEPROBE)

2 Kommt mal auf den Punkt 21  (LESEPROBE)

3 Wir gründen eine Clique 34

4 Oma sagt, dass Laufen gesund ist 48

5 Wir sollten uns etwas sputen 60

6 Von warmen Brüdern und Damen mit Geruch 71

7 Von Ehrenfelder Piraten und Rievkoche 81

8 Versoffene Nasen 88

9 Was für ein Tag 99

10 Das Schlimmste kommt zum Schluss 110

 

Nachwort des Autors 120

Danksagung 122


Was gibt's da zu tuscheln?

1Irgendetwas musste los sein, denn meine Oma hatte etwas Wichtiges mit meinem Vater in der Küche zu besprechen, kurz bevor ich ins Bett gehen musste.

Ich stand dicht an der Wohnzimmertür, die nur angelehnt war, und lauschte gespannt. Doch es war nichts zu hören. Dann beugte ich meinen Kopf soweit nach links, dass mein Ohr am Türspalt lag. Doch da die blöde Küchentür geschlossen war, hörte ich nur, wie meine Oma zweimal meinen Namen sagte. Also schien es bei diesem wichtigen Gespräch um mich zu gehen.

Diese Woche hatte ich eigentlich überhaupt nichts angestellt. Bei Familie Michels, das waren unsere Nachbarn, hatte ich mit zwei Freunden lediglich Klingelmäuschen gespielt – na ja dreimal, öfters aber nicht. In der Schule war auch nichts vorgefallen, was ein ernstes Gespräch nach sich ziehen würde. Klassenarbeiten hatte es diese Woche auch keine gegeben, und die Hausaufgaben hatte ich auch alle gemacht.

Als ich einen Blick zur Wanduhr werfen wollte, polterte es in der Küche, und ich erschrak dermaßen, dass ich beinahe einen verräterischen Aufschrei ausgestoßen hätte. Ich atmete erleichtert aus. Puh, da habe ich noch einmal Glück gehabt.

Über was also sprachen meine Oma und mein Vater bloß, wenn nicht über die Dinge, die mir eben durch den Kopf gegangen waren? Sollte ich aus dem Wohnzimmer zur Küchentür schleichen und horchen? Eine innere Stimme flüsterte mir befehlerisch zu: »Los, Denny! Tu es! Geh! Geh und horche, was in der Küche besprochen wird!« Könnte ich tun, aber was wäre, wenn mein Vater plötzlich die Küchentür aufreißen und mich sehen würde?

Ich fragte mich im Stillen, was für eine Strafe einen Horcher erwarten würde und hatte absolut keine Lust darauf, heute noch den Hosenboden vollzukriegen, also beschloss ich im Wohnzimmer zu bleiben und zu warten, bis Oma und Vater mit dem Gespräch fertig waren und wieder ins Wohnzimmer zurückkamen.

Mittlerweile war ich so dicht an den Türspalt gerückt, dass mein linkes Ohr in den Flur hinausragte.

Huch! Ich erschrak und warf einen Blick zu Boden. Omas Hund Timmy hatte mich mit seiner Schnauze an der rechten Wade berührt. Du blöder Hund, dachte ich, denn beinahe wäre ich vor Schreck gegen die Tür gefallen. Das hätte einen so lauten Knall gegeben, war ich überzeugt, dass meine Oma und mein Vater bestimmt direkt nachgeschaut hätten, wer oder was die Ursache dafür war.

»Geh wieder auf's Sofa, Timmy«, flüsterte ich Omas Hund befehlerisch zu und richtete dabei einen strengen Blick auf ihn.

Timmy stand neben mir und wedelte mit dem buschigen Schwanz.

»Geh schon! Los!«, flüstere ich ihm abermals zu.

Nichts zu machen, dieser Hund hatte einen verdammten Dickkopf und wollte einfach nicht auf mich hören. Ich war überzeugt davon, dass er mich noch verraten würde.

»Sei bloß still! Hast du mich verstanden?«, ermahnte ich Timmy eindringlich und hoffte, dass er nicht an zu bellen fing, während ich an der Wohnzimmertür stand und mit einem Ohr lauschte. Verflixt, das Gespräch zwischen Oma und Vater dauerte mir zu lange.

Timmy stupste mich mit der Nase an. Erst leicht, dann fester. Hoffentlich hatte ich jetzt keinen Hunderotz an der Wade.

»Hat dich etwa ein Floh gebissen?«, flüsterte ich.

Timmy war unruhig geworden. Er wollte unbedingt in die Küche zu Oma. Auch er war wohl neugierig, was dort im Geheimen vor sich ging.

»Pscht, du zotteliges Hundevieh«, schimpfte ich leise. »Sitz!«, befahl ich. Sofort horchte ich angespannt, ob mich jemand gehört hatte. Die Küchentür blieb geschlossen, und ich wandte mich wieder dem Hund zu.

»Sitz!«, flüsterte ich nochmals.

Oh, ein Wunder war geschehen, der Hund gehorchte plötzlich. Gut, Problem Hund war vorerst gelöst. Ich bückte mich und kraulte kurz sein wuscheliges schwarz-weißes Fell.

»Braver Hund«, lobte ich ihn.

Ein schrecklicher Gedanke schoss mir durch den Kopf. Heute war schon Donnerstag, und übermorgen war mein zehnter Geburtstag. Hoffentlich führte das Gespräch zwischen Oma und Vater nicht darauf hinaus, dass ich eine Strafe aufgebrummt bekam.

Nun kraulte ich Timmy hinter dem rechten Ohr, damit er weiterhin ruhig sitzen blieb.

Ich erschrak plötzlich bei dem Gedanken, dass mir vorige Woche ein spitzer Eckzahn gewachsen war, und ich hoffte, dass dies nichts Schlimmes zu bedeuten hatte. Merkwürdig war das allerdings schon, hatte ich mir doch eine Woche zuvor Dracula im Fernsehen angesehen.

Oh nein, dachte ich, jetzt geht mir ein Licht auf. Es geht um den Film. Der Gedanke schlug mit so einer Wucht in mich ein, dass ich beinahe vor Schreck die Tür mit dem Hintern zugeschlagen hätte.

Obwohl Oma mir den Vampirfilm streng verboten und mit einer Strafe gedroht hatte, konnte ich trotzdem nicht widerstehen und hatte ihn mir doch angesehen. Tja, das kam so: Der Film wurde am frühen Abend im Fernsehen gezeigt. Meine Oma machte sich große Sorgen um Timmy und musste mit ihm noch unbedingt einen Arzt aufsuchen, weil der Hund angeblich etwas unverträgliches gegessen hatte und sich die Seele aus dem Leib kotzte. Tja, mein Vater und meine Mutter waren an diesem Abend auch nicht zu Hause. Also, was sollte ich tun? Nur blöd dasitzen und darüber nachgrübeln, was bei Dracula in diesem Augenblick abging. Nein, das konnte ich wirklich nicht tun.

 

Also, liebe Leute. Wie ist das denn bei Euch, wenn jemand sagt: Ich verbiete es dir! Ist das nicht das beste Argument, genau das Verbotene dann zu tun? Na ja, und so war das damals auch bei mir.

 

Samstag hatte ich Geburtstag, und Sonntag kamen meine Freunde zu Besuch, um mit mir zu feiern. Das konnte ich nun vergessen. Aus und vorbei war der Traum von einer schönen Geburtstagsfeier mit Süßigkeiten und Kakao.

Ich konnte mich gleich auf einen langen Vortrag einstellen. Vater würde das berühmte Aufklärungsgespräch anfangen, während Oma ihren Senf dazugeben würde. Na ja, da hatte ich Glück, dass meine Mutter gestern zu ihrer Schwester gefahren war und heute Abend erst spät wiederkommen wollte, denn sonst hätte ich mich mit drei Gegnern auseinandersetzen müssen.

Ich brauchte also handfeste Argumente, warum ich mir den Film verbotenerweise angesehen hatte.

Schule, dachte ich und nickte begeistert und war fest davon überzeugt, dass diese Erklärung einleuchtend war. Genau, dachte ich und nickte zufrieden. Ich brauchte Informationen für einen Aufsatz über Vampire.

Ich überlegte angespannt, ob diese Erklärung wirklich glaubwürdig war. Dabei kraulte ich den Hund. Doch dann sagte ich mir im Stillen vor: Blödes Argument. Eine Nachfrage bei meiner Lehrerin würde diese Lüge sofort wie eine Seifenblase platzen lassen.

Schon wieder hörte ich in der Küche meinen Namen fallen. Dieses Mal hatte Vater ihn ausgesprochen.

Dann zuckte ich vor Schreck zusammen, als mir wieder mein spitzer Eckzahn in den Sinn kam.

»Vampir«, hauchte ich und fühlte mir mit dem Zeigefinger an den spitzen Zahn.

Was war plötzlich in den Hund gefahren? Timmy jaulte kurz auf und lief unter den Wohnzimmertisch. War er fortgegangen, weil ich ihn nicht mehr kraulte? Oder spürte er, dass ich das Böse in mir trug?

Von nun an war ich verdammt bis in alle Ewigkeit als Untoter durch die Welt zu wandeln, auf der Suche nach Opfern und deren Blut.

Verdammt, früher war das Leben doch viel einfacher und unbeschwerter gewesen. Ich stutzte und überlegte. Was sollte denn dieser blöde Gedanke? Ich tat ja schon so, als wäre ich ein alter Mann.

Das Gespräch zwischen Vater und Oma war lang – viel zu lang. Sie unterhielten sich über mich, weil ich ein Vampir war. Was hatten sie mit mir vor? Wollten sie mich in den Keller einsperren und dort, bis in alle Ewigkeit sitzen lassen?

Ich erschrak und bemerkte dabei, wie mir die Blässe ins Gesicht stieg. Eine Gänsehaut lief mir plötzlich über den Rücken, als mir ein weiterer schrecklicher Gedanke kam.

Oder wollten sie mir einen Pfahl durch das Herz jagen?

Ich überlegte wieder und kam zu dem Entschluss, dass ich fliehen musste. Wohin konnte ich gehen? Ich konnte mich meinem Onkel anvertrauen. Aber was sollte ich ihm sagen? Etwa die Wahrheit? Dann hörte ich die Stimme meines Vaters in meinem Kopf: »Wir werden dich jagen ...« Und in diesem Moment ging die Küchentür auf, und in Windeseile nahm ich im Sessel Platz.

Timmy lag immer noch unter dem Tisch und beobachtete mich ganz genau. Seine Augen machten einen ängstlichen Eindruck auf mich, so als würde er erwarten, dass jeden Augenblick der Vampir in mir ausbrechen könnte.

Es ist doch sehr merkwürdig, wie sich das Leben manchmal so ganz unerwartet verändert, dachte ich.

Eben war ich noch ahnungslos und ein ganz normaler Junge im Alter von neun Jahren, und einige Minuten später war ich ein Blutsauger, der schon bald auf die Suche nach seinem ersten Opfer gehen würde, um sein Dasein zu sichern.

»Wir möchten mit dir reden, Denny«, sagte mein Vater, als er das Wohnzimmer betrat. Oma folgte ihm dichtauf.

Das wunderte mich nicht. Es war an der Zeit, dass ich endlich die Wahrheit über mich und meine Bestimmung erfahren sollte.

»Wir haben gedacht ...«, fing Vater langsam an, »... dies wäre ein guter Zeitpunkt ...« Vater redete mit mir, doch seine Worte nahm ich nicht mehr wahr.

Wir haben gedacht, gingen mir seine Worte durch den Kopf. Das war schon mal ein gutes Zeichen. Niemand, der jemandem im nächsten Moment einen Pfahl durch das Herz jagen wollte, fing einen Satz an mit: Wir haben gedacht. Vielleicht war es ja doch noch nicht zu spät für mich, und Oma und Vater haben eine Lösung gefunden, mich wieder in einen Menschen zu verwandeln.

»Hörst du mir überhaupt zu, Denny?«, hörte ich Vater laut sagen.

»Natürlich höre ich dir zu, Papa«, nickte ich, obwohl ich nicht genau mitbekommen hatte, worüber er gerade gesprochen hatte. Das Wort OmaHund und Samstag war gefallen.

»Gut«, sagte Vater und erzählte etwas über die Kirche und den Kölner Dom. Ich zuckte bei dem Wort Kirchezusammen, und zugleich schossen finstere Gedanken durch meinen Kopf.

Na ja, sie konnten mich auch in die Kirche zum Beten schicken. Bloß das nicht. Was würde der katholische Pastor sagen, wenn er erfuhr, dass ich ein Vampir war? Womöglich würde er mir unendlich lange Texte aus der Bibel vorlesen, Teufelsaustreibungen an mir verüben, vielleicht würde er aber auch einen Pfahl aus der Tasche ziehen und ...

Ich hörte plötzlich, wie Vater etwas über Oma und Köln erzählte.

»Was ist mit dir, mein Sohn?«, fragte Vater laut, und ich wandte mich ihm direkt zu. »Du wirkst immer noch so abwesend. Hast du mir überhaupt zugehört?«

»Ja«, sagte ich nur.

Oma sagte kein Wort. Sie redete sonst immer viel. Okay, wenn ich jetzt behaupten würde, sie redete wie ein Wasserfall, das wäre übertrieben, aber so war sie mir zu schweigsam. Nun stand sie da wie angewurzelt und sah mich an, als wäre ich ein ...

»Deine Freunde kommen doch erst am Sonntag zu deiner Feier ...«, unterbrach Vater meine düsteren Gedanken, »... und da haben wir gedacht, du würdest gerne mit Oma am Samstag in die Stadt gehen.«

Plötzlich machte es Bum bei mir!

Bum!

Bum!

»Was ist?«, fragte Vater erstaunt und wartete einen Augenblick, bis er dann sagte: »Ich und deine Mutter wollten ja eigentlich am Samstag etwas mit dir unternehmen, aber wir müssen leider arbeiten, und Oma hätte Zeit für dich.«

»Okay«, stotterte ich und warf Oma einen kritischen Blick zu.

»Ich weiß, Denny. Am Samstag ist dein Geburtstag, und du wirst zehn Jahre alt. Es tut mir ja auch leid, dass wir keine Zeit für dich haben, aber am Samstag geht es wirklich nicht. Leider.«

»Ist schon okay, Papa«, sagte ich.

»Und was ist mit Sonntag?«, fragte ich.

»Am Sonntag sind wir natürlich hier«, nickte Vater mir freudig zu.

»Es ist kaum zu glauben, Denny, dass du schon zehn Jahre alt wirst. Wie schnell doch die Zeit vergeht. Jetzt haben wir schon 1969«, sagte Oma kopfschüttelnd.

Niemand redete davon, dass ich ein Vampir war. Hatte ich mir die ganze Vampir-Sache bloß eingebildet? Ja, ich hatte mich wohl zu sehr in das Thema Vampire hineingesteigert.

»Es ist schon spät geworden«, sagte Oma. »Du musst ins Bett.«

»Okay«, sagte ich nur.

Warum Oma mit mir in die Stadt gehen wollte, hinterfragte ich nicht weiter. Ich war in diesem Augenblick froh darüber, dass ich ein ganz normaler Junge und kein Vampir war.

Natürlich freute es mich, dass sich Oma am Samstag Zeit nahm und mit mir in die Stadt gehen wollte. Einige meiner Freunde hatten nämlich am Samstag keine Zeit, deswegen war ja auch meine Geburtstagsfeier auf den Sonntag verlegt worden.

Ohne großen Aufstand zu machen, ging ich die Zähne putzen. Das fiel mir heute Abend besonders schwer, weil gleich Bonanza anfangen würde. Ich ärgerte mich total und könnte die Wände hochgehen, als ich daran dachte, dass diesen Monat Bonanza immer eine Stunde später kam als sonst.

Vampir, grübelte ich beim Zähneputzen. Gut, ich war vorerst kein Vampir.

Nun gut, jeder Mensch hatte schließlich Eckzähne. Aber trotzdem musste geklärt werden, warum ich diesen extrem spitzen Eckzahn bekommen hatte.


Kommt mal auf den Punkt

2Versucht Ihr einmal einzuschlafen, wenn nebenan im Wohnzimmer Bonanza im Fernsehen läuft.

 

Ich jedenfalls machte kein Auge zu. Little Joe hatte etwas von Indianern gesagt. Ein Schuss war gefallen. Eine Frau hatte geschrien, und ein Hund hatte gekläfft – das war Timmy gewesen.

Gottverdammt, ich sollte nicht hier in diesem blöden Bett liegen, sondern nebenan sein, damit ich den Cartwrightsim Kampf gegen die Indianer beistehen konnte. Ich hatte mir ja nicht ohne Grund ein Cowboykostüm und eine Pistole zugelegt. Es war eine gute Gelegenheit, diese Sachen außerhalb der Karnevalszeit zu tragen. Ich nickte zustimmend und war bereit dafür, mit den Cartwrights Seite an Seite in den Kampf zu reiten.

Oma würde auf keinen Fall einverstanden sein, wenn ich jetzt zu ihr ins Wohnzimmer gehen und meine Gedanken in die Tat umsetzen würde.

Ich schloss die Augen, drehte mich im Bett herum und wandte mich vom Wohnzimmer ab. Doch eine gefühlte Minute später hatte ich die Hoffnung aufgegeben – einschlafen würde ich mit Sicherheit nicht so leicht. Gerade war wieder ein Schuss gefallen, und ein Hund hatte gekläfft – und dieses Mal war es nicht Timmy gewesen.

Ich wälzte mich schlaflos im Bett hin und her, von der einen auf die andere Seite.

Ich könnte zum Klo schleichen und dabei kurz an der Wohnzimmertür horchen. Vielleicht sollte ich dabei auch durch das Schlüsselloch gucken, um einen Blick auf das Fernsehgerät zu erhaschen. Ich musste doch unbedingt wissen, was gerade bei Bonanza so passierte.

Es war total unfair.

Gemein.

Qualvoll – eine Folter für die Seele.

Ich hier und die Cartwrights nebenan.

Als ich auf dem Rücken lag, schlug ich die Augen auf und starrte in die Dunkelheit zur Decke hoch. Es war schon etwas verrückt. Die einsamsten Menschen auf der Welt waren wohl Robinson Crusoe und ich – Denny. Denn in diesem Moment fühlte ich mich wie Robinson sich auf seiner Insel gefühlt haben musste. Niemand war da, mit dem er reden konnte. Er sprach zu Tieren und Pflanzen und womöglich auch manchmal zu irgendwelchen – na ja – Gegenständen. Ich sollte aufstehen und mich mit dem Kruzifix unterhalten, das über Omas Bett hing. Vielleicht half ein kurzes Gebet, und der Herrgott würde mich erhören und ins Wohnzimmer zu den Cartwrights schicken.

Morgen noch einen Schultag rumkriegen und dann ist Wochenende, ging es mit durch den Kopf.

Verflixt, ich konnte einfach nicht einschlafen und dachte an die Bewohner hier in Omas Haus. Oma wohnte im Erdgeschoss. Es gab ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und eine Küche. Ach ja, und es gab natürlich auch noch ein Klo. Vom Schlafzimmer und von der Küche aus kam man auf eine schmale Terrasse, an deren Ende eine kleine Steintreppe in den Garten hinabführte. Meine Oma hatte mir erzählt, dass mein Opa diese Treppe gebaut und damit eine alte Holztreppe ersetzt hatte.

Normalerweise übernachteten unter der Woche noch zwei Pflegekinder – Thomas und Bettina – bei meiner Oma, die aber in dieser Woche nicht hier waren. Ach ja, ich hatte wohl vergessen zu erwähnen, dass wir uns zu viert das Schlafzimmer meiner Oma teilten, in dem vier Betten und zwei Wäscheschränke standen.

Thomas war diese Woche bei seinen Eltern geblieben, weil sie Urlaub hatten. Er wollte aber am Sonntag zu meiner Feier kommen.

Bettina war krank geworden und diese Woche bei ihrer Mutter geblieben. Oma hatte gestern von der Post aus mit Bettinas Mutter telefoniert und erfahren, dass Bettina fast wieder gesund war und vielleicht zu meiner Geburtstagsfeier kommen konnte. Gut, das freute mich natürlich sehr.

 

Die Jüngeren von Euch werden sich jetzt bestimmt fragen: Warum hatte die Oma von Denny von der Post aus telefoniert? Tja, das war so, früher hatte man noch keine Handys und nicht jeder hatte ein Telefon zu Hause – das war Luxus, und den konnte sich nicht jeder leisten. Man musste noch zur Telefonzelle gehen, um jemanden anzurufen, und die gab es häufig bei der Post.

 

Auf der ersten Etage wohnten meine Eltern in einer kleinen Zweizimmerwohnung, die aus einem Schlafzimmer und einem sehr kleinen Wohnzimmer bestand. Da war kein Platz mehr für mich, deswegen schlief ich ja auch hier unten bei meiner Oma. Außerdem mussten meine Eltern Omas Küche mitbenutzen.

Des Weiteren wohnte auf der ersten Etage Frau Frings in einer Einzimmerwohnung mit Kochecke. Frau Frings war um einige Jahre älter als meine Oma, aber immer noch sehr rüstig. Dann gab es auf dieser Etage noch ein Gemeinschaftsbad mit Klo für das ganze Haus.

Auf der zweiten Etage war auch noch eine Zweizimmerwohnung, die aus einem Schlafzimmer und einem kleinen Wohnzimmer mit Kochecke bestand, in der das ältere Ehepaar Steinbüchel wohnte. Die Frau sprach ich mit Tante Gertrud an. Ach ja, eine Waschküche befand sich ebenfalls dort oben auf der zweiten Etage, in der eine Gemeinschaftswaschmaschine für das Ehepaar Steinbüchel und Frau Frings stand. Den alten Waschbottich, der mit Holz beheizt werden konnte, benutzte niemand mehr. Oma hatte mir mal erzählt, dass sie noch bis kurz vor meiner Geburt mit dem Ding die Wäsche gewaschen hatte. Die Wäsche hatte meine Oma mit einem Waschbrett sauber gerubbelt. Anschließend musste die Wäsche dann noch ausgewrungen werden. Das war körperliche Schwerstarbeit gewesen. Da hatten wir es nun mit einer Waschmaschine ja viel einfacher.

Ich schrak auf. Schon wieder war ein Schuss gefallen, aber dieses Mal war kein Hundegebell zu hören. Soviel wurde sonst nie in Bonanza herumgeballert. Oh, nun hörte ich auch noch die Stimmen von Hoss und Adam.

So langsam fiel es mir trotz Bonanza verdammt schwer, meine Augenlider offenzuhalten. Ich musste gähnen. Die Müdigkeit überfiel mich plötzlich rasend schnell und legte sich wie ein schwarzes Tuch über mein Gesicht. Ich wollte mich dagegen wehren, die Müdigkeit abschütteln, wie ein nasser Hund die Wassertropfen von seinem Fell, doch das Schicksal hielt einen anderen Weg für mich bereit. Ich musste wieder gähnen und dann ...

 

Vater und Mutter saßen mit mir in Omas Küche am Esstisch. Keiner von beiden rührte sich. Sie tauschten nur stumme Blicke aus. Ich warf einen hoffnungsvollen Blick zur Tür. Wo war Oma?

Sie kam nicht.

»Wir sind uns einig, Denny«, begann Vater und sah mich dabei streng an, »heute ist der Tag«, er blickte kurz zu Mutter, die ihm leicht zunickte, »um dir von den Veränderungen zu erzählen, von denen du bald betroffen sein wirst.«

»Aha!«, sagte ich und lächelte leicht. »Du meinst sicherlich, dass ich schon sehr bald massenhaft Pickel und eine Pubertätstimme bekommen werde?«

Vater schüttelte den Kopf, während Mutter tief Luft holte.

»Die Wahrheit über unsere Familie«, sagte Vater und wiederholte: »Um dir die Wahrheit über unsere Familie zu erzählen.«

Vater schwieg.

Er machte es aber spannend. Was sollte das für eine Wahrheit sein? Waren wir etwa reich? Würde ich bald ein eigenes Zimmer bekommen? Vielleicht bekam ja jede Familie hier im Haus ihr eigenes Bad. Wir hatten Bekannte in der Eifel, die wir schon mal mit dem Zug besucht hatten. Sie hatten ein Haus mit zwei Badezimmern, und in diesem Haus lebten nur die Eltern mit ihren beiden Kindern und der Opa. Hätten wir ein eigenes Bad mit elektrischem Boiler, dann bräuchte ich mich Morgens nicht mehr an einer Schüssel mit warmem Wasser zu waschen. Vielleicht dürfte ich dann auch öfters in der Woche duschen oder baden, was ja sonst eigentlich nur samstags vorgesehen war.

 

Ja Leute, das war wirklich so. Die Älteren von Euch werden es bestimmt noch wissen. Duschen oder Baden fand nicht jeden Tag statt. Da gab's eine kleine Bütte voll Wasser, an der man sich waschen konnte. Manchmal war das Wasser auch kalt – und blöderweise immer dann, wenn es draußen Winter war. Und wenn Ihr Euch jetzt noch über den Wunsch des elektrischen Boilers wundert: Damals gab es noch Boiler, die mit Holz beheizt wurden, und so war das auch bei uns.

 

Dann ergriff Vater wieder das Wort: »Na ja, Denny, die Sache ist die ...«

Mutter schniefte kurz.

»... du bist etwas ganz Besonderes.«

Na klar bin ich das, dachte ich und grinste Vater breit an.

»Da bin ich ja froh«, sagte ich, warf zuerst Mutter einen Blick zu, und dann sah ich Vater an, »dass ihr das auch endlich mal bemerkt habt.«

Vater runzelte die Stirn.

Was hatte er bloß? Verstand er wieder einmal keinen Spaß? Warum mussten Erwachsene so oft eine ernste Miene machen? Immer taten sie so, als wäre die Welt voller Probleme.

»Du bist anders als deine Freunde, Denny«, sagte Vater in einem ernsten Ton, der mich an einen brummenden Bären erinnerte.

»So«, sagte ich und lauschte gespannt.

Mutter hatte noch kein einziges Wort gesagt. Das war wirklich sehr seltsam. Sie schnatterte doch manchmal wie eine Gans. Mutter war mir zu ruhig, das wiederum beunruhigte mich nun doch ein wenig. Und überhaupt: Wo war Oma?

»Was ist denn mit mir los?«, forderte ich von meinem Vater eine Erklärung.

Vater räusperte sich.

»Irgendwann in der nächsten Zeit wirst du nächtelang unterwegs sein ...«

Na toll, Vater. Was sollte denn das für eine blödsinnige Erklärung sein? Ich glaubte nicht so recht daran, dass ich mit zehn Jahren nächtelang unterwegs sein würde. Oma würde mir das Fell über die Ohren ziehen.

»Na ja, Denny, es wird die Zeit kommen, da wirst du vielleicht ziemlich schlecht riechen.«

Das war wohl doch nicht ernst gemeint? Hatte Vater völlig den Verstand verloren? Als ich Mutters ernste Miene sah, schwieg ich und hörte ihm weiter zu.

»Was dein Vater damit meint, Denny«, sagte Mutter sanft, »du wirst vielleicht manchmal etwas essen, wovon du starken Mundgeruch bekommen wirst.«

Die ersten Worte meiner Mutter waren auch nicht besser wie die meines Vaters. Ich starrte Mutter schweigsam an. Vater musste sie mit irgendeiner teuflischen Krankheit angesteckt haben. Sie fing so langsam an, den gleichen Blödsinn zu reden wie er.

Warum konnten meine Eltern mir nicht klipp und klar sagen, was sie von mir wollten? Hielten sie mich noch für ein Kleinkind? Ich würde bald zehn Jahre alt sein. Meine Eltern sollten endlich mal aufwachen und so langsam mal erwachsen werden.

»Wovon zum Teufel redet ihr eigentlich?«, hakte ich ärgerlich nach.

»Ist das nicht ersichtlich, Denny?«, fragte Vater und zog dabei die Augenbrauen langsam hoch.

»Nein, ist es nicht«, brüllte ich.

»Es geht um deine Eckzähne, Denny, mein lieber Sohn«, sprach Mutter mich an. Ihre Stimme hörte sich zwar sanft an, aber es klang ein unterschwelliger Ton von Besorgnis in ihr mit. »Wir hätten es dir schon sehr viel früher sagen sollen ...«

»Hätten wir nicht«, unterbrach Vater sie. »Der Zeitpunkt ist genau richtig.«

»Moment mal«, stotterte ich. »Ihr wollt doch nicht etwa sagen ...«

Vater und Mutter sahen mich schweigend an.

»Nein«, schüttelte ich den Kopf und konnte es nicht fassen. Meine Gedanken waren doch völliger Blödsinn. »Nein«, schüttelte ich wieder den Kopf. »Nein, nein, nein.« Ich versuchte alle meine negativen Gedanken abzuschütteln, was mir allerdings nicht sonderlich gut gelang.

»Doch, Denny«, sagte Vater. »Ich denke, du weißt, was wir dir sagen wollen.«

Mutter nickte nur.

Ich warf einen hektischen Blick zur Tür. Wo war denn bloß Oma? Nur noch sie konnte mir sagen, dass ich mich irrte. Aber sie kam nicht.

»Wollt ihr mir etwa sagen, dass ich ein ...«, ich schluckte und hauchte, »... ein Vampir bin?«

Mutter nickte nur.

»Ja«, sagte Vater und senkte den Kopf.

Diese Neuigkeit schlug bei mir ein wie eine Bombe. Jede Zelle meines Körpers schien sich aufzulösen und sich in alle Himmelsrichtungen auf- und davonzumachen.

»Ähm!«, sagte ich langsam und grinste leicht. Dann stieß ich ein Lachen aus, kurz wie ein Husten, und sah erst Vater und dann Mutter an, als hätten sie einen Scherz gemacht. »Ihr beiden wollt mich auf den Arm nehmen.« Irgendwie fühlte ich mich angespannt, und Lachen schien mir ein gutes Heilmittel dagegen zu sein. Doch als ich in die ernsten Gesichter meiner Eltern blickte, verstummte mein Lachen abrupt.

»Also, jetzt macht ihr mir aber eine höllische Angst«, flüsterte ich.

Mutter nickte wieder. Dann sagte sie in einem zarten Ton: »Es stimmt, Denny, du bist ein Vampir.«

Ich spürte, wie eine Hitzewelle durch meinen Körper jagte. Mein Kopf musste knallrot geworden sein. Mundgeruch würde ich in diesem Augenblick wohl nicht bekommen, aber vielleicht würde ich feuchte Hände bekommen.

Egal. Handgeruch gibt es ja zum Glück nicht, dachte ich.

»Ich durchschaue euch jetzt ganz genau«, lächelte ich plötzlich. »Ihr wollt mich ...«

Nein, wollten sie nicht, dachte ich, dafür waren ihre Mienen immer noch zu ernst.

»Es gibt doch keine Vampire«, sagte ich vorsichtig. »Oder?«, hauchte ich.

Vater antwortete nicht.

»Dein Vater und ich sind«, Mutter sagte die Worte sehr langsam, »Vampire, genauso wie unsere Generation davor.«

Ich spürte, wie die Hitze in mir anstieg. Hoffentlich fingen meine Haare nicht an zu brennen. Aber konnte ein Vampir denn eines Feuertodes sterben?

Der Schreck fuhr in meine Glieder, und ich sprach Mutter in einem ernsten Ton an: »Ist Oma auch ein Vampir?«

Sie nickte mir zu. Ich schrie auf, als die Tür aufging und Oma in die Küche eintrat.

 

Ich schrie weiter und weiter, bis Oma mich rüttelte und sagte: »Denny, Denny.«

»Oma?«

»Wach auf, Denny!«

»Oma?«

»Denny!«

Ich schlug die Augen auf, und Oma stand neben meinem Bett. Einen kurzen Moment brauchte ich noch, um zu mir zu kommen und mich zu orientieren.

»Du bist kein Vampir«, sprach ich Oma an.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Ach, nur so«, schluckte ich.

»Hast wohl schlecht geträumt.«

Ich nickte, und nahm Oma in den Arm.

»Komm, Denny«, sagte Oma. »Du musst dich waschen und anziehen.«

»Ja«, sagte ich nur und war froh, dass alles nur ein Traum gewesen war.

Beim Zähneputzen fühlte ich an den spitzen Zahn und betete, dass mir kein weiterer spitzer Eckzahn wuchs.

 

 

Ende der Leseprobe